SoVD-Podcast: Barrierefreie Mobilität in Hamburg
Wie sehen inklusive Mobilitätsangebote aus und was kann Hamburg verbessern, um Teilhabe für alle zu gewährleisten?
Barrierefreie Mobilität in Hamburg: Fragen und Inhalte
01:01 Blinden- und Sehbehindertenverein: Kernaufgaben
02:56 E-Roller: Ein Problem für Menschen mit Behinderung
05:59 Inklusive Mobilitätswende: Barrierefreiheit im ÖPNV und Straßenverkehr
11:13 Blinden oder sehbehinderten Menschen helfen? So begegnen Sie Betroffenen mit Respekt
13:44 UN-Behindertenrechtskonvention: Hamburg muss gleichberechtigte Teilhabe für alle sicherstellen
17:10 Inklusiver Arbeitsmarkt, Freizeit und Urlaub: Barrieren und Hilfsmittel
Die Fahrgastinformationen müssen so zur Verfügung gestellt werden, dass sie mindestens mit zwei Sinnen wahrnehmbar sind. Man spricht da vom Zwei-Sinne- oder Mehr-Sinne-Prinzip. Das ist so eine ganz wichtige Grundvoraussetzung für Barrierefreiheit. Das heißt, alles, was irgendwie visuell über Displays und Aushänge zur Verfügung gestellt wird, muss auch zum Beispiel akustisch zur Verfügung gestellt werden und umgekehrt.
“Zu Gast ist Heiko Kunert, Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg e.V. (BSVH). Er engagiert sich vor allem für eine inklusive, barrierefreie Gesellschaft und ist Vorsitzender der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) für behinderte Menschen. Wir sprechen über die größten Stolperfallen, Herausforderungen und Probleme, für Blinde und Sehbehinderte Menschen im Bereich Mobilität und Verkehr. Und darüber, was Hamburg konkret tun kann, um Benachteiligungen abzubauen und die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Denn die Inklusion und Teilhabe in allen Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens ist ein Menschenrecht. Deshalb haben sich der Sozialverband SoVD Hamburg, BSVH, LAG und viele weitere, im Bündnis „Mobilitätswende – nur mit uns!“ zusammengeschlossen und machen sich auf dem politischen Parkett stark für eine gute, sichere und nachhaltige Mobilität für alle.
Barrierefreie Mobilität in Hamburg: Der SoVD-Podcast zum Lesen
SR: Susanne Rahlf
KW: Klaus Wicher
HK: Heiko Kunert
SR: “Sozial? Geht immer!” - Der Podcast des SoVD Hamburg mit Klaus Wicher und Susanne Rahlf. Einmal im Monat diskutieren wir soziale Fragen und Problemlagen, haken nach und geben Antworten. Immer im Blick: Soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Chancengleichheit. Sie wollen keine Folge mehr verpassen. Dann abonnieren Sie uns auf den gängigen Podcast-Plattformen. Herzlich willkommen zu unserem Podcast. “Sozial? Geht immer!” Mein Name ist Susanne Rahlf.
KW: Ja, auch von mir ein herzliches Willkommen. Mein Name ist Klaus Wicher. Ich bin Landesvorsitzender des SoVD Hamburg.
SR: Zu Gast ist Heiko Kunert. Er ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins in Hamburg und ist zudem Vorsitzender der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen. Herzlich willkommen, Herr Kunert!
HK: Schönen guten Tag! Vielen Dank für die Einladung.
01:01 Blinden- und Sehbehindertenverein: Kernaufgaben
SR: Herr Kunert, Sie sind seit fast 20 Jahren engagiert und streiten unermüdlich für Inklusion und Barrierefreiheit in Hamburg. 1100 Mitglieder vertreten Sie in Ihrem Verein. Was sind Ihre Themen, mit denen Sie sich momentan besonders beschäftigen?
HK: Wir beschäftigen uns damit, den Menschen, die gerade neu von einem Sehverlust betroffen sind, zu helfen – das ist eine unserer Kernaufgaben. Beratung und Hilfsmittel kennenzulernen, die den Alltag erleichtern, Fragen nach Nachteilsausgleich, zum Beispiel Blindengeld oder Ähnliches zu beantworten und dann eben zu helfen, dass die Betroffenen ein möglichst eigenständiges Leben weiterführen können. Das Ganze versuchen wir auch in der Interessenvertretung in die Gesellschaft zu tragen. Da versuchen wir das ganze Spektrum eigentlich abzudecken.
Das fängt bei der schulischen Inklusion an und geht dann weiter auf dem Arbeitsmarkt, wo es tatsächlich für einen Großteil unserer Zielgruppe extrem schwer ist, Fuß zu fassen und einen Job zu finden. Es gibt Zahlen, wonach 30 Prozent der blinden Menschen im erwerbsfähigen Alter überhaupt auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind und die anderen 70 Prozent sind arbeitssuchend, in irgendwelchen Maßnahmen oder in Werkstätten.
Dann geht es weiter mit der Situation im Alter. Zwei Drittel aller blinden, sehbehinderten Menschen sind im Seniorenalter. Viele davon sind eben erst neu mit ihrer Sehbehinderung konfrontiert. Durch altersbedingte Erkrankungen. Es ist tatsächlich oft gar nicht so einfach, gesellschaftlich noch teilzuhaben. Viele Menschen im Alter vereinsamen oft auch. Da versuchen wir natürlich gegenzusteuern. Wir setzen uns eben auch dafür ein, dass diese Menschen die Hilfsmittel bekommen, die sie brauchen. Da ist es gar nicht so leicht, dass die Krankenkassen auch das bewilligen, was gebraucht wird. Das ist für uns auch so ein Dauerbrenner Thema.
02:56 E-Roller: Ein Problem für Menschen mit Behinderung
SR: Das ist die ganze Bandbreite, die Sie uns gerade erklärt haben. Gibt es nicht Themen, die zurzeit besonders brennen? Ich denke an Mobilität und Arbeit. Da gibt es wahrscheinlich auch Unterschiede.
HK: Genau, es gibt natürlich immer akute Themen, die in der Interessenvertretung dann gerade auch eine Rolle spielen. Unsere Aufgabe ist, die Belange der blinden, sehbehinderten Menschen und von Augenpatienten hier in Hamburg zu vertreten, auch gegenüber der Politik. Und da gab es in den letzten Jahren natürlich das eine oder andere Aufregerthema, auch wir haben in den letzten Jahren zum Beispiel die Einführung der E-Roller hier in Hamburg gehabt. Ich selber bin auch blind. Wenn ich mich draußen mit meinem Stock bewege und dann plötzlich auf dem Gehweg ein E-Roller steht oder liegt – also an Orten, wo ich einfach nicht mit einem Hindernis rechne – dann ist das immer eine Stolpergefahr. Es gibt auch Fälle in Hamburg, wo blinde, sehbehinderte Menschen eben auch gestürzt sind, sich Brüche zugezogen haben. Die E-Roller sind für viele Bürger lästig, auch für mobilitätseingeschränkte Menschen im Rollstuhl oder Menschen mit Kinderwagen, die dann nicht drumrum navigieren können. Aber sie sind natürlich für Menschen, die sie nicht sehen können, dann auch wirklich gefährlich. Da haben wir uns auch dafür eingesetzt, dass es da bessere Lösungen gibt.
KW: Da sind wir dicht beieinander, Herr Kunert. Wir sind der Auffassung, dass diese E-Roller an bestimmten Stellen in der Stadt abgestellt werden müssen. Wir beobachten vor allen Dingen, dass viele junge Menschen damit fahren – es ist also gar kein Gefährt für ältere oder behinderte Menschen. Da werden wir gemeinsam auch tätig werden und mit dem Verkehrssenator nach Lösungen suchen.
HK: Feste Abstellflächen sind in der Tat auch unsere Forderung als Mindestforderung. Eigentlich könnten wir auch ganz gut auf E-Roller ganz verzichten, so wie das ja inzwischen auch zum Beispiel in Paris und bald auch in Gelsenkirchen der Fall ist. Aber wenn es die weiter geben soll, dann braucht es feste Abstellflächen, also eben Bereiche, wo die nur geparkt werden dürfen. Dann kann man auch besser als blinder Mensch darum herumgehen.
KW: Herr Kunert, an solchen Stellen sollten wir keine Kompromisse machen, sondern die beste Lösung suchen. Die beste Lösung aus unserer Sicht ist: Wir brauchen die E-Roller nicht und sie werden eingestellt.
HK: Genau das ist die Forderung, die wir als Maximalforderung haben. Wir sind zum Glück gemeinsam mit der Politik im Gespräch – sowohl der SoVD als auch die Hamburger LAG und der Blinden- und Sehbehindertenverein und noch sieben weitere Partner haben zusammen ein Bündnis für eine barrierefreie Mobilitätswende gegründet und sind dann in Gesprächen mit der Verkehrsbehörde. Im Moment ist zumindest so, dass es diesen Verkehrsträger weiter geben soll. Dann ist tatsächlich die Mindestforderung, die festen Abstellflächen.
05:59 Inklusive Mobilitätswende: Barrierefreiheit im ÖPNV und Straßenverkehr
SR: Gibt es denn so viel noch nachzubessern? Ich sehe diese geriffelten Bürgersteige, an denen man sich orientieren kann. Ich sehe die Fahrstühle. Wir haben doch eigentlich alles, oder?
HK: Wir haben tatsächlich leider noch nicht alles. Sie haben recht, es ist in den letzten Jahren einiges passiert, was Barrierefreiheit im ÖPNV angeht. Vor allem eben bei den U- und S-Bahn gibt es eben diese Bodenindikatoren. Die Leitstreifen, an denen sich blinde, sehbehinderte Menschen gut orientieren können. Es gibt zunehmend Aufzüge. Das ist auf jeden Fall alles sehr positiv, aber es fehlt auch noch an allen Ecken und ich musste jetzt zum Beispiel kürzlich neu am Eppendorfer Markt umsteigen. Ich bin da vorher von einem Bus in den anderen noch nicht umgestiegen. Da habe ich zum Beispiel festgestellt, dass es sehr voll ist, da laufen viele Menschen rum, es geht kreuz und quer. Ich musste die Straßen überqueren, um zum anderen Bus zu kommen. Da hat dann zum Beispiel die Ampel kein Akustiksignal gehabt. Das sind dann so Herausforderungen im Alltag, an die wir ständig stoßen. Der ÖPNV ist ein ganz wichtiges Thema für uns als Blinden- und Sehbehindertenverein. Auch für die Schwerhörigen und Gehörlosen sind die Fahrgastinformationen ein wichtiges Thema. Die sind nämlich überhaupt nicht barrierefrei zugänglich. Da gibt es dann Displays, Aushänge, aber akustisch bekomme ich viele Informationen nicht mit über Streckensperrungen, dass die Haltestellen verlegt werden oder Ähnliches. Das ist ein ganz wichtiges Thema für uns.
KW: Wir beraten auch die Politik. Das sind ja Hinweise, die wir geben, die wichtig sind, gerade für Menschen, die sehbehindert sind oder blind. Was sind die wichtigsten Forderungen, die Sie an die Politik haben im Bereich Mobilität?
HK: Aktuell das Thema Fahrgastinformation und perspektivisch auch: Die Fahrgastinformationen müssen so zur Verfügung gestellt werden, dass sie mindestens mit zwei Sinnen wahrnehmbar sind. Man spricht da vom Zwei-Sinne- oder Mehr-Sinne-Prinzip. Das ist so eine ganz wichtige Grundvoraussetzung für Barrierefreiheit. Das heißt, alles, was irgendwie visuell über Displays und Aushänge zur Verfügung gestellt wird, muss auch zum Beispiel akustisch zur Verfügung gestellt werden und umgekehrt, wenn in der U-Bahn angesagt wird, dieser Zug hält außerplanmäßig hier und Sie müssen aussteigen. Das diese Information auch schriftlich über Displays oder so sichtbar ist, damit eben mehr Menschen eine Möglichkeit haben, diese Information auch mitzubekommen, Das ist eine ganz wichtige Forderung. Und dann geht es auch weiter.
Wir haben eben Mobilitätswende als Stichwort genannt. Da kommt natürlich die nächsten Jahre auch noch einiges auf die Menschen hier zum Beispiel in Hamburg zu. Es wird wahrscheinlich irgendwann mehr autonome Fahrzeuge geben, zum Beispiel MOIA oder Ähnliches werden irgendwann ohne Fahrer wahrscheinlich durch die Stadt fahren. Da können Sie sich vorstellen, wenn man da als blinder, sehbehinderter Mensch ein und aussteigen will, dann muss auch hinsichtlich Barrierefreiheit viel gemacht werden, damit das überhaupt geht.
KW: An sich ist es ja gut, diese Rufbereitschaft von Fahrzeugen. Ich stehe an einer bestimmten Stelle und dort kommt das Fahrzeug hin, fährt mich zu dem Punkt, an den ich möchte. Nun muss noch was dazu kommen. Was muss jetzt dazu kommen, wenn jetzt das autonome Fahren eingeführt wird?
HK: Das gilt eigentlich jetzt schon für zum Beispiel diese Shuttledienste wie MOIA. Die Auffindbarkeit muss sichergestellt werden. Ich muss das Fahrzeug überhaupt erst mal finden können und da sind verschiedene Sachen möglich: Entweder macht das Fahrzeug ein Geräusch, wenn es da ist, was eindeutig ist, oder die App, über die ich das rufe, sagt mir ganz klar, wo ich stehe, wo ich hingehen muss, möglichst metergenau. Das ist natürlich ein Unterschied, ob ich 5 Meter zu weit links oder rechts stehe und was darüber hinaus geht. Das wird auch viele SoVD Mitglieder tangieren. Es gibt noch sehr viele Menschen, die sich gar kein MOIA mit App rufen können, weil sie gar nicht digital unterwegs sind und zum Beispiel mit einem Smartphone überhaupt nicht zurechtkommen. Das ist bei unserer Klientel von neu sehbehinderten Menschen auch ganz oft so, dass sie damit noch nicht zurechtkommen. Da braucht es auch die Möglichkeit, dass ich mir so ein MOIA telefonisch rufen kann, zum Beispiel.
SR: Diese Forderung vertritt der SoVD an vielen Stellen in Bezug auf Digitalisierung. Die Bahn stellt jetzt das Ticket kaufen komplett um. Sie brauchen die App und das ist ja an vielen Stellen ein großes Problem, dass es immer noch genügend Menschen gibt, die damit nicht umgehen können.
11:13 Blinden oder sehbehinderten Menschen helfen? So begegnen Sie Betroffenen mit Respekt
SR: Ich denke da gerade an einen Vorfall letzte Woche. Da habe ich jemanden gesehen, der mit einem Blindenstock die Straße lang ging und dann zwischen Radweg und Straße geriet. Es gab viele Leute, die haben sich das mit angeguckt und haben da jetzt aber nicht eingegriffen. Wie fühlt sich das eigentlich an? Ist es für jemanden, der nicht sehen kann, eine Hilfe, wenn andere ihn unterstützen oder fühlt man sich da dann direkt unselbstständig? Ist es gut, wenn Mitmenschen Mitgefühl zeigen und sie unterstützen oder ist es das, was vielleicht auch die Eigenständigkeit und die Autonomie ein bisschen angräbt?
HK: Da sprechen Sie ein ganz wichtiges Thema an. Wir haben das auch gerade aktuell in einer Kampagne verarbeitet, die demnächst auch ins Fahrgastfernsehen, in die U-Bahn kommen wird, weil viele blinde, sehbehinderte Menschen das im Alltag erleben, dass sie ungefragt zum Beispiel angefasst werden. Ich habe das oft, dass jemand einfach meine Hand greift und mich zur U-Bahn Tür ziehen will. Das ist natürlich unangenehm. Also das Wichtigste ist erst mal zu fragen: Brauchen Sie Hilfe? Kann ich Ihnen helfen? Die Betroffenen können das in der Regel ganz gut einschätzen. Sie können erst mal grundsätzlich davon ausgehen, wenn ein blinder, sehbehinderter Mensch durch die Stadt geht, dass er erst mal weiß, wo er längs gehen muss. Es gibt Orientierungs- und Mobilitätstraining, wo wir gelernt haben, wie wir uns mit Stock, Gehör und Tastsinn orientieren. Da können Sie erstmal davon ausgehen, dass wir wissen, was wir tun. Wenn es eine Situation gibt, wo sich der Betroffene verirrt hat, also das passiert natürlich, so wie Sie es geschildert haben, dann sind wir natürlich immer sehr dankbar, wenn uns jemand anspricht und Hilfe anbietet.
SR: Also auf jeden Fall mit Respekt und vor allen Dingen erst mal fragen.
HK: Ja, genau. Eigentlich auch nur dann fragen, wenn Sie den Eindruck haben, dass der Mensch wirklich Hilfe braucht. Es ist oft so, dass sich sehende Menschen versuchen zu helfen, weil sie sich nicht vorstellen können, wie wir uns alleine und eigenständig orientieren können. Vielleicht stellt man sich das so vor: Wie würde es mir als sehende Menschen jetzt gehen, wenn ich mit verbundenen Augen hier auf diesem U-Bahnhof stehen würde? Dann wäre ich nämlich ziemlich ausgeliefert und würde mich hilflos fühlen. Das ist natürlich in der Regel bei uns nicht der Fall, weil wir gelernt haben, uns eigenständig zu orientieren. Wenn Sie dann den Eindruck haben, dass irgendwas nicht stimmen könnte oder derjenige Hilfe brauchen könnte, dann immer fragen und dann sind auch viele Betroffene dankbar.
13:44 UN-Behindertenrechtskonvention: Hamburg muss gleichberechtigte Teilhabe für alle sicherstellen
KW: Das Grundziel ist, dass alle gleichermaßen an der Gesellschaft teilhaben können. Und deswegen ist unsere zentrale Forderung: Politik guck hin. Was gibt es für Beeinträchtigungen und sichert durch bestimmte Maßnahmen automatisch, dass alle die Verkehrswege und andere Dinge auch nutzen können? Sie haben das Zwei-Sinne-Prinzip vorhin genannt. Das tragen wir in die Politik hinein. Welchen Eindruck haben Sie? Nimmt die Politik das eigentlich ernst genug, um sicherzustellen, dass alle die Ziele erreichen, die sie auch erreichen wollen?
HK: Das Thema Barrierefreiheit und Inklusion ist in den letzten 15 Jahren schon zunehmend in Verwaltung und Politik angekommen. Seit es die UN-Behindertenrechtskonvention gibt, die Deutschland zur Barrierefreiheit und Inklusion verpflichtet, merken wir schon, dass auch Politik und Verwaltung mehr auf uns zugeht und das Thema auch immer präsenter ist. Seit 2019 finanziert die Stadt zum Beispiel ist Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg. Da sind unter anderem der Blinden- und Sehbehindertenverein und die Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen die Träger dieses Kompetenzzentrums, was von der Stadt finanziert wird. Da merken wir schon, dass wir von mehr Behörden angefragt und in Prozesse eingebunden werden. Trotzdem ist das ein zähes Geschäft, muss man auch sagen. Es gibt auch immer wieder Situationen, wo wir merken, dass Menschen mit Behinderung gar nicht mitgedacht werden, obwohl eigentlich alle wissen, dass es wichtig ist, das Thema von Anfang an in Projekten mitzudenken. Wir hatten kürzlich die Einführung der Prepaid Card in Bussen hier in Hamburg. Man kann nicht mehr bar sein Busticket bezahlen und diese Technologie ist zum Beispiel überhaupt nicht barrierefrei. Da fragt man sich natürlich schon, wie kann es sein, dass in 2024 eine neue Technik eingeführt wird, die nicht barrierefrei ist?
KW: Ja, das geht eigentlich gar nicht. Und deswegen ist für uns auch ganz wichtig, dass die Sozialverbände, aber auch die Verbände, in denen sich behinderte Menschen organisieren, immer wieder mit der Politik automatisch im Gespräch sind. Wie sehen Sie das?
HK: Das ist eine gemeinsame Forderung von uns, die wir in unserem Bündnis Barrierefreie Mobilitätswende auch formuliert haben. Da ist es am Ende gelungen, dass es eine gemeinsame Willenserklärung gab zwischen Behörde für Verkehr und Mobilitätswende und den Verbänden und in der wir uns dazu verpflichtet haben, gemeinsam regelmäßig zusammenzukommen und relevante Themen zu besprechen. Das gelingt schon ganz gut. Was aus unserer Sicht aber noch die Herausforderung ist, dass es wirklich auch in der Praxis ankommt. Bei solchen in Anführungszeichen kleinen Projekten wie jetzt zum Beispiel der Prepaid Card oder wenn es zu Straßenberuhigungen in der Innenstadt kommt oder so, dass auch da immer die Belange von Menschen mit Behinderung wirklich mitgedacht werden.
KW: Oder Baumaßnahmen, die plötzlich irgendwo auftreten. Und es gibt keinen Hinweis.
HK: Ja, Baustellensicherheit zum Beispiel. Wenn man als Mensch mit Behinderung oder blinder Mensch plötzlich in eine Baustelle gerät, die nicht ordentlich abgesichert ist. Das sind dann so Situationen im Alltag, wo man merkt, na ja, überall ist das Thema noch nicht angekommen. Das ist, glaube ich, schon auch Verantwortung von Politik und Verwaltung, das auch von oben so einzufordern.
17:10 Inklusiver Arbeitsmarkt, Freizeit und Urlaub: Barrieren und Hilfsmittel
SR: Ja, da gibt es wahrscheinlich auch noch andere wichtige Themen. Sie sagten jetzt gerade Mobilität. Da werden Sie dann auch gefragt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass zum Beispiel auch beim Wohnungsbau, da gibt es, glaube ich, auch viele Punkte, was die Barrierefreiheit angeht, wo man vielleicht mit ihnen in Kontakt treten könnte, um sich dort auszutauschen oder auch im Arbeits- und Berufsleben: Wie muss ein Arbeitsplatz gestaltet sein? Ist es überhaupt ein wahnsinnig großer Aufwand, jemanden, der nicht sehen kann, einzustellen? Das ist immer die große Problematik im Berufsleben, dass es da noch viel zu viele Vorurteile gibt.
HK: Ja, das ist sicherlich ein wichtiges Thema, dass es Vorurteile gibt, dass viele blinde, sehbehinderte Menschen, aber auch andere Menschen mit Behinderung gar nicht erst zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden, weil sich die Arbeitgeber nicht vorstellen können, wie das funktioniert, oder die Sorge haben, dass sie die ganzen Kosten für die Schaffung der Barrierefreiheit tragen müssen. Es gibt auch immer noch diesen Mythos, dass man Mitarbeitende mit Behinderung schlechter wieder loswird. Das ist eigentlich alles Quatsch aus unserer Erfahrung. Bestimmte Hilfsmittel am Arbeitsplatz werden in der Regel von Kostenträgern wie Integrationsämtern, Rentenversicherungsträger usw. übernommen. Nur da ist oft die Bewilligungspraxis sehr zäh. Wenn Sie sich vorstellen, Sie haben ein halbes Jahr Probezeit bei einem neuen Arbeitgeber und haben in dem halben Jahr aber noch nicht die Bewilligung für Ihre Hilfsmittel, dann ist das natürlich ein Problem.
KW: Sie wünschen sich vor allen Dingen ja, dass die Anträge schnell bearbeitet werden, damit es auch dazu kommt, dass der Unternehmer sieht: Es ist gar nicht so schwierig, jemanden, der eine Behinderung hat, einzustellen.
HK: Genau, das ist eine ganz, ganz wichtige Forderung. Darüber hinaus gibt es natürlich immer noch die Arbeitgeber, die gar nicht bereit sind, die lieber die Ausgleichsabgabe zahlen. Da ist es eine Forderung der Behindertenverbände, dass die deutlich erhöht werden muss.
KW: Ich glaube, dass auch über 50 Prozent der Unternehmen in Hamburg gar keine behinderten Menschen bisher eingestellt haben. Das heißt, da ist noch viel Luft nach oben.
HK: Was ich in dem Zusammenhang wirklich merkwürdig finde, alle reden vom Fachkräftemangel. Es gibt so viele Menschen mit Behinderung, die eine Ausbildung haben, die ein Studium haben und die dann arbeitssuchend bleiben. Das passt eigentlich auch nicht zusammen.
KW: Nein, aber es ist ein toller Hinweis, dass Sie das noch mal sagen, dass hier die Möglichkeit besteht, dem Fachkräftemangel auch entgegenzuwirken. Meine Frage ist aber noch: Gibt es eigentlich genügend Geld, wenn jetzt mehr Unternehmen solche Hilfen beantragen?
HK: Wir hören immer, dass im Topf für die Mittel der Ausgleichsabgabe reichlich Geld liegt, was zum Teil gar nicht abgefordert wird. Im Zweifel müsste man, ich habe es eben gesagt, die Ausgleichsabgabe auch für die, die sich komplett verweigern, Menschen mit Behinderung einzustellen, auch erhöhen. Das nehme ich bisher nicht wahr, dass das das Hauptproblem wäre, dass da kein Geld da ist, sondern es ist eher das Problem, dass zu wenig abgefordert wird. Man muss auch sagen, das ist aber so eine Grundsatzfrage, wie viel Geld doch hierzulande auch in Parallelwelten gesteckt wird. Denken wir nur mal an Werkstätten für Menschen mit Behinderung oder an Sonderschulen. Da kann man natürlich grundsätzlich die Frage aufwerfen: Wäre das Geld nicht für inklusive Maßnahmen besser verwendet in Zukunft?
SR: Es geht wahrscheinlich auch ein bisschen um eine neue Denkweise in den Köpfen der Unternehmer. Gibt es eigentlich eine Firma oder ein Unternehmen in Hamburg, was ein Vorbild sein könnte für andere?
HK: Das ist immer ein bisschen subjektiv, natürlich auch geprägt. Wir kriegen mit, dass zum Beispiel Otto hier in Hamburg doch sehr viele Schritte eingeleitet hat, um mehr Mitarbeitende mit Behinderungen auch einzustellen und auch weiter im Austausch auch mit uns zu dem Thema immer mal wieder steht. Grundsätzlich, was die Quote angeht, hält die Verwaltung der Stadt Hamburg die Mindestbeschäftigungsquote ein. Da gibt es also durchaus auch Berufschancen für Menschen mit Behinderung. Da ist nicht alles Gold, was glänzt, weil auch da ist es oft so, selbst in der Verwaltung, dass da Software dann genutzt wird, die nicht barrierefrei ist. Also wenn wir von Barrierefreiheit reden, meinen wir auch immer den digitalen Bereich, der immer wichtiger wird. Wenn da dann neue Verwaltungssoftware angeschafft wird, die dann für blinde, sehbehinderte Menschen nicht bedienbar ist, dann stehen halt plötzlich Mitarbeitende von einem Tag auf den anderen vor ihrem Schreibtisch und können nicht mehr arbeiten.
KW: Es gibt ja noch einen Bereich, wo es auch um Teilhabe an der Gesellschaft geht, der mir richtig auffällt. Wie ist es eigentlich, wenn Sie Urlaub machen? Sie brauchen doch eine Unterstützung, oder? Wenn Sie mit der Bahn von Hamburg nach München fahren: Einstieg, Ausstieg, Platz finden usw.
HK: Ganz wichtiges Thema überhaupt das Thema Freizeit. Teilhabe an Kultur und Gesellschaft. Tatsächlich gibt es Bereiche, wo wir auf Assistenz angewiesen sind. Das ist ganz oft in völlig fremder Umgebung der Fall. Denken Sie nur mal morgens im Hotel ans Frühstücksbuffet. Wenn ich da alleine vor stehe, wäre ich relativ aufgeschmissen und das ist sehr unterschiedlich. Also manche Häuser oder Hotels sind da schon sehr gut darauf eingestellt. Da kann man einfach fragen, können Sie mir mal kurz helfen und dann geht das. Bei anderen ist einfach der Personalmangel so groß, dass das dann gar nicht in der Praxis funktioniert. Wir selber vom Blinden- und Sehbehindertenverein haben ein Hotel für unsere Zielgruppe, ein gemeinnütziges Haus am Timmendorfer Strand – das Aura Hotel. Da ist es so, dass zum einen das Gebäude barrierefrei ist und die Gestaltung kontrastreich, dass sich eben sehbehinderte Menschen gut orientieren können und dass es genug Unterstützung gibt bei Ausflügen und zum Beispiel am Buffet.
SR: Viele Aspekte, bei denen man sie auf jeden Fall konsultieren könnte, wenn es um Barrierefreiheit und Inklusion geht. Unternehmen, die Stadt, die Mobilitätsanbieter – alle könnten bei Ihnen nachfragen und ein paar hilfreiche Hinweise bekommen.
KW: Der Sozialverband Deutschland ist ja mit seinen neuen Juristen auch immer bereit, genau an dieser Stelle zu helfen und Interessen auch gegenüber Verwaltungsbehörden und anderen durchzusetzen.
SR: Herr Kunert, vielen Dank, dass Sie da waren. Es war sehr interessant, über Ihre Arbeit zu hören und ich glaube, da gibt es auch noch viel zu tun. Wir wünschen Ihnen sehr viel Erfolg und bis bald.
HK: Herzlichen Dank.
KW: Ja, ich danke auch. Vielen Dank fürs Kommen.
SR: Das war “Sozial? Geht immer!” - Der Podcast des SoVD Hamburg. Abonnieren Sie uns auf den gängigen Plattformen und wenn es Ihnen gefallen hat, geben Sie uns dort gerne eine gute Bewertung ab. Oder Sie schicken uns Ihr Feedback an info@sovd-hh.de. Wir freuen uns, wenn Sie auch das nächste Mal wieder reinhören. Bis dahin halten wir Sie auf unseren Social Media Kanälen auf dem Laufenden oder besuchen Sie unsere Webseite sovd-hh.de.