SoVD-Podcast: Armut in Hamburg
Wie können wir die Armut lindern, Ursachen wirkungsvoll bekämpfen und allen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen?
Armut in Hamburg: Fragen und Inhalte
00:29 Armut in Hamburg: Wie viele Menschen sind von Armut bedroht?
04:07 Grundsicherung: Welche Zugangsbarrieren gibt es und wie können diese abgebaut werden?
06:21 Ursachen für Armut: Wo können wir ansetzen, um Armut wirkungsvoll zu bekämpfen?
11:25 Kindergrundsicherung: Mittel gegen Kinderarmut und für Chancengleichheit?
14:01 Altersarmut: Teilhabe an der Gesellschaft dauerhaft sichern
17:57 Würdevolles Wohnen und Leben in Hamburg für alle ermöglichen
24:31 Armut vermeiden: Gute Arbeit und soziale Absicherung gewährleisten
28:46 Wege aus der Armut: Wo kann und muss die Politik ansetzen?
Wir brauchen eine offensive Sozialpolitik, Informationskampagnen, Beistände in den Behörden, auch eine Vereinfachung der Antragsverfahren. Wir brauchen aber auch eine Reform in der Gesetzgebung. Denn wir haben viele Rechtskreise, die nebeneinander bestehen. Denken Sie an Leistungen für Familien: Kindergeld, Kindergrundsicherung, Kindergeldzuschlag, Wohngeldzuschlag und vieles mehr. Das müssen wir reformieren, um die Barrieren entsprechend hier zu verringern.
“Zu Gast ist Prof. Dr. Harald Ansen, Professor für Soziale Arbeit HAW Hamburg. Gemeinsam diskutieren wir die aktuelle Lage von Armutsbetroffenen in Hamburg sowie drängende Herausforderungen angesichts der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich – denn das Armutsrisiko wächst nicht nur bei Rentner:innen, sondern auch bei Kindern und jungen Erwachsenen. Wie können wir gegensteuern, Perspektiven schaffen und Teilhabechancen gewährleisten? Ob jung oder alt: Ein gutes, menschwürdiges Leben muss für alle Menschen in der Hansestadt möglich sein.
Armut in Hamburg: Der SoVD-Podcast zum Lesen
KW: Klaus Wicher
HA: Harald Ansen
KW: “Sozial? Geht immer!” - Der Podcast vom Sozialverband SoVD in Hamburg. Herzlich willkommen! Ich bin Klaus Wicher, Landesvorsitzender des SoVD in Hamburg. Heute zu Gast ist Prof. Dr. Harald Ansen. Er ist ein bekannter Armutsforscher aus Hamburg und lehrt an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.
HA: Danke für die Einladung.
00:29 Armut in Hamburg: Wie viele Menschen sind von Armut bedroht?
KW: Armut ist ein Thema, das immer mehr im öffentlichen Gespräch ist. Wir haben noch mal geguckt: In Hamburg leben rund 1,9 Millionen Menschen. Davon, nach der offiziellen Armutsstatistik, sind 19,8 Prozent arm, das sind rechnerisch 377.000 Menschen. Ist die Zahl richtig, Herr Professor?
HA: Statistisch gesehen ist sie bestimmt richtig. Wir messen Armut an einer 60 Prozent-Armutsgrenze, gewichtet nach Haushaltsgrößen. Faktisch habe ich meine Zweifel. Wenn jemand drei Euro mehr verdient, wäre er nicht mehr arm. Das wäre natürlich eine absurde Vorstellung. Die Zahl ist eine Durchschnittsgröße. Die Gruppe der Betroffenen variiert. Wir haben etwa eine hohe Zahl der Betroffenen bei Alleinerziehenden und Menschen mit Migrationshintergrund. Bei Älteren steigt die Armut zunehmend. Bei Kindern und Jugendlichen ist es auch überproportional.
Der Wert ist statistisch nachvollziehbar. Er ist aber faktisch durch die Lebensumstände der in Armut Lebenden problematisch. Es werden in Hamburg Notquartiere für Wohnungslose geschlossen. Die werden gar nicht mitgezählt, weil die nicht erfassbar sind in diesen Zahlen. Insofern müssen wir da immer politisch hinschauen und die Lebensumstände genauer betrachten.
KW: Soweit ich das jetzt mitbekomme, gibt es auch viele, die ihre Ansprüche gar nicht geltend machen, die sich schämen, zum Amt zu gehen und Grundsicherung beantragen. Können Sie das bestätigen?
HA: Ja, wir nennen das verdeckte oder verschämte Armut. Nach allen Schätzungen und Simulationsberechnungen liegt die Quote bei 60 Prozent derer, die berechtigt wären, die Hilfe aber nicht in Anspruch zu nehmen. Auf Bundesebene hätten wir jetzt etwa sechs Millionen Grundsicherungsbeziehende, damit läge die verdeckte Armut bei über vier Millionen Menschen, die Leistung nicht beanspruchen. Das ist nicht nur Scham, es ist auch eine Wissenslücke. Sie haben auch Angst davor, dass ihre Kinder in Regress genommen werden.
KW: Müssten wir an den Hamburger Senat herantreten und sagen: Macht mal mehr Öffentlichkeitsarbeit zu dem Thema. Die Menschen müssen zu ihrem Recht kommen und wissen, wo sie bestimmte Leistungen beantragen können.
HA: Unbedingt. Wir brauchen eine offensive Sozialpolitik, Informationskampagnen, Beistände in Behörden, auch eine Vereinfachung der Antragsverfahren. Die Formulare sind teilweise schwer verständlich. Die Amtssprache ist Deutsch. Für Menschen mit Migrationshintergrund und anderen Herkunftssprachen sind die Formulare schwierig zu handhaben. Wir brauchen aber auch eine Reform in der Gesetzgebung. Denn wir haben viele Rechtskreise, die nebeneinander bestehen. Denken Sie an Leistungen für Familien: Kindergeld, Kindergrundsicherung, Kindergeldzuschlag, Wohngeldzuschläge und vieles mehr. Das müssen wir dringend reformieren, um die Barrieren entsprechend hier zu verringern.
KW: In Hamburg haben über 29.000 Rentner Grundsicherung im Alter beantragt. Wenn Ihre Zahlen annähernd richtig sind, dann kommen noch mal 60 Prozent dazu, die auch einen Anspruch hätten. Das sind enorme Zahlen.
HA: Absolut. Das ist seit Jahren so – ist natürlich ein Dunkelfeld. Wir gehen immer mit Simulationsberechnungen vor. Die Zahlen gelten als belastbar. Wir sollten das ernst nehmen. Gerade ältere Menschen leben oft in dauerhafter Armut, weil sie nicht mehr dazuverdienen können. Von daher wäre es schon hilfreich, hier eine große Kampagne zu starten. Vor vielen Jahren haben wir über den Sozialstaat debattiert. Jetzt wäre eine Debatte über den offensiven Sozialstaat das Gebot der Stunde.
04:07 Grundsicherung: Welche Zugangsbarrieren gibt es und wie können diese abgebaut werden?
KW: Der SoVD Hamburg beschäftigt allein acht Juristen, die nichts anderes machen, als für SoVD-Mitglieder in Sozialrecht zu beraten und zu vertreten vor Gericht, wenn Interessen durchgesetzt werden müssen. In diesem Zusammenhang haben wir uns den Grundsicherungsantrag angesehen. Der ist 19 Seiten lang. Ich selbst habe mal versucht den zu beantworten und bin daran gescheitert. Wie sehr muss das jemandem schwerfallen, der sich mit solchen Dingen gar nicht beschäftigt? Kommt das auch in Ihre wissenschaftliche Arbeit hinein?
HA: Eher bei der Erforschung der Zugangsbarrieren zur sozialstaatlichen Leistung spielt das eine wichtige Rolle. Einmal die bürokratische Barriere, das Antragsverfahren, die eigenen Verpflichtungen entsprechend zur Mitwirkung, die abschreckend wirken können, Sprachbarrieren. Selbst diejenigen, die deutsch muttersprachlich sind.
KW: Wir nehmen wahr, dass immer mehr Menschen nicht die Chance haben, mit den Berater in den Behörden zu sprechen. Der Zugang ist da fast verwehrt.
HA: Da ist die Hoffnung, dass über digitale Komponenten wieder die Kommunikation etwas breiter gemacht werden kann. Der Zugang ist verwehrt. Zurzeit sind nicht alle digital kompetent.
KW: Nicht nur digital kompetent, sondern wer arm ist, kann sich Digitalität gar nicht leisten. Das sind ganz viele hier. Einige haben Handys, aber der Umgang ist schwer.
HA: Wir gehen davon aus, dass eine Beratung außerhalb der Behörden, die im Rechtskreis übergreifend angelegt ist, dem Sozialstaat quasi assistieren könnte, um Leistungen in die Bevölkerung zu bringen. Die Behörden haben eine Beratungsverpflichtung nur in ihrem kleinen Rechtskreis. Viele Notlagen sind übergreifend angelegt und dann tillen Behörden. Eine Beratungsstruktur, die auch finanziert wird, wäre auskömmlich, um die Zugänge zu erleichtern, entsprechend eine wichtige Maßnahme, um die Hürden zu verringern.
06:21 Ursachen für Armut: Wo können wir ansetzen, um Armut wirkungsvoll zu bekämpfen?
KW: Werde der Sozialsenatorin das mal vorschlagen, dass sie die Beratungsleistung beim SoVD mit übernimmt, damit wir viele Menschen erreichen können. Es ist so, dass niemand von vornherein immer arm ist, sondern es gibt Ursachen für Armut. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Hauptursachen, dass wir eine so große und sich weiterentwickelnde Armut in Hamburg, in Deutschland haben?
HA: Die Ursachen streuen recht breit. Eine Ursache ist immer, ob ausreichend Einkommen vorhanden ist. Der Mindestlohn deckt Armut nur begrenzt ab. Zweitens kommt dazu die Erwerbsbiografie. Sind Menschen in der Lage, Vollzeit berufstätig zu sein, um Ansprüche zu erwerben? Wir haben viele diskontinuierliche Erwerbsbiografien. Hinzu kommt das Niveau der sozialen Sicherungssysteme - das ist nicht immer armutsfest. Am Beispiel der Altersarmut können wir das sehr schön verdeutlichen. Im Jahre 2002 gab es eine Art Paradigmenwechsel in der Alterssicherung. Damals hat man eine Abkehrorganisierung der Lebensstandardsicherung gemacht und jetzt sind eher private und betriebliche Vorsorge nach vorne gerückt. Das setzt eine Erwerbstätigkeit voraus, die entsprechend entgolten wird. Das haben viele nicht. Ein weiterer Faktor ist die soziale Infrastruktur, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Viele sind alleinerziehend. Die verlässliche Kinderbetreuung, auch zu den Zeiten, in denen gearbeitet wird, ist ausbaufähig.
KW: Die Alleinerziehenden sind von Armut hoch betroffen. 43 Prozent aller Alleinerziehenden mit zwei und mehr Kindern sind von Armut in Hamburg betroffen. Das weiß doch die Behörde. Was müssen wir an dieser Stelle tun, damit wir diesen Frauen helfen? Kindergartenplätze soll es genug geben. Stimmt das?
HA: Das kann ich nicht genau beurteilen. Es gibt immer Ausweichquartiere, die sind nicht immer im Nahraum. Entscheidend ist, dass die Kindergärten nicht immer dann geöffnet haben, wenn gearbeitet wird – im Schicht-, Nacht-, Früh- und Spätdienst.
KW: Das heißt, hier ist das System nicht flexibel genug, um den Betroffenen wirklich helfen zu können. Es gibt noch andere Gründe. Eine Behinderung ist ein schwerwiegendes Hemmnis, um überhaupt gut in die Gesellschaft reinzukommen. Woran liegt das? Das geht doch nicht, dass behinderte Menschen einer solchen Benachteiligung auch ausgesetzt sind.
HA: Das kollidiert auch mit der UN-Behindertenrechtskonvention und mit der Inklusionspolitik. Die politische Programmatik ist auf Teilhabe gestellt. Der Reglungsvollzug im Bereich der Wirtschaft ist ausbaufähig. Wir können uns weiterhin auch freikaufen, um eine Quote nicht bedienen zu müssen. Die Arbeitsanforderungen sind verdichtet, nicht immer leistbar. Wir bräuchten hier auch einen Arbeitsmarkt, der aufnahmebereit ist und den Verschiedenheiten Rechnung trägt. Wir sprechen heute gerne von Diversität und Sensibilität. Die müsste noch weiter ausgebaut werden, um allen eine Chance zu geben.
Wir haben Menschen, die sehr verschieden sind in ihren Möglichkeiten, Begabungen oder Potenzialentfaltungen. All diesen Menschen einen Platz zu geben, die Teilhabe zu gewährleisten, braucht eine konzertierte Aktion der Wirtschaft, der Wohnungspolitik, der sozialen Sicherungssysteme, des Bildungswesens, des Gesundheitswesens, des Therapiewesens.
KW: Hier müssten wir die Gesellschaft auch ein Stück umbauen.
HA: Ja, das ist ein langer Prozess. Wir haben zwar in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention, die wurde ratifiziert, aber es gibt weiter Vollzugsdefizite. Es gibt regelmäßige Monitorings, die das auch entsprechend bestätigen. Das ist ein längerer Prozess, in dem auch die Frage der Toleranz im Alltag noch ausbaufähig ist.
KW: Wenn wir auf die Rolle der Frauen in der Gesellschaft zu sprechen kommen. Trotz Gleichberechtigung, die wir haben und die auch mehr Aufmerksamkeit bekommen hat, sind Frauen in den Bereichen der Sorgearbeit, also der Kindererziehung oder der Pflege zu Hause, benachteiligt. Das führt sie auch ein Stück in Armut.
HA: Unbedingt. Die Anerkennung in der Alterssicherung ist begrenzt und mittlerweile etabliert. Wir können ein paar Punkte sammeln, aber eine Vergütung dieser Leistungen, auf die wir alle angewiesen sind, erfolgt völlig unzureichend. Wenn die Leistungen wegfielen, würde der Sozialstaat kollabieren. All das dienstlich zu organisieren, behördlich und entgolten, was da geleistet wird, ist undenkbar.
11:25 Kindergrundsicherung: Mittel gegen Kinderarmut und für Chancengleichheit?
KW: Sie sprechen an, dass wir gar nicht genug Beschäftigte haben, geschweige denn, dass wir diesen Bereich finanzieren könnten, wenn er wirklich ganz und gar staatlich wäre. Wir kommen zu dem Thema Kinder und Jugendliche. Auch dort ist die Armut weit verbreitet. Das ist die Zukunft der Gesellschaft. Die sollen später mal die Arbeiten leisten, die heute im Grunde brachliegen oder wo die Menschen in Rente gehen. Nehmen wir diesen Kindern und Jugendlichen die Chancen?
HA: Im Bildungssystem ja. Es ist nachweislich so, dass eine sozial schwierige Hintergrundsituation Bildungsmöglichkeiten erschwert. Da gibt es Selektionsmechanismen. Die Möglichkeiten der Kinder sich zu entfalten, sind verringert. Aufgrund schlechter räumlicher Bedingungen. Die Eltern haben Nöte, die die Kinder ungefiltert erreichen. Die finanziellen Möglichkeiten sind begrenzt für Lernmittel, für Nachhilfestunden und anderes mehr. Auch die Freizeitkultur, die Ausgrenzungsrisiken der Kinder in Armut. Wir haben zwar im Bildungs- und Teilhabepaket mittlerweile das, was von vielen gar nicht erreicht wird. Aufgrund der Antragsbarrieren, die bestehen. Gegenwärtig wird die Kindergrundsicherung präpariert und vorbereitet, sie soll 2025 in Kraft treten. Es arbeiten mittlerweile sieben Ressorts der Bundesregierung an den Entwürfen. Das zeigt die Komplexität, wie wir die Grundsicherung, Leistungen für Asylbewerber:innen, die Kindergeldfragen, die Steuerpolitik so harmonisieren können, dass Leistungen bei den Kindern und Jugendlichen und deren Familien auch ungeschmälert ankommen.
KW: Gut, aber das Gesetz der Kindergrundsicherung hängt im Moment. Die Koalition in Berlin hat darüber beraten, aber keine Einigung erzielt. Wie ist das zu bewerten jetzt?
HA: Es steht im Koalitionsvertrag. Ich bin sicher, es wird kommen. Wahrscheinlich in etwas abgeschwächter Form. Die Harmonisierung der Leistungen und die Integration in die Grundsicherung oder ein anderes Thema, die Auszahlungsmodalitäten werden sicherlich vereinfacht werden. Die jetzige Situation ist für alle Beteiligten unbefriedigend. Es gibt Studien, die sagen, dass bis zu 80 Prozent des Teilhabepaketes, nicht vollständig ankommt, aufgrund von Barrieren, Antragsverfahren, Wissenslücken, aber auch der Kosten-Nutzen-Aspekt: Lohnt der Aufwand in Familien, das zu betreiben oder lass ich die Finger gleich davon? Das sind Argumente, die auch in der Forschung gut dokumentiert sind.
14:01 Altersarmut: Teilhabe an der Gesellschaft dauerhaft sichern
KW: Wenn wir jetzt noch mal einen Blick in die Altersarmut haben: Die Menschen haben nun ihr Leben lang gearbeitet. Es sind nicht wenige dabei, die wirklich 40 bis 45 Jahre gearbeitet haben und dann von einer Rente leben müssen, von der wir nicht leben können. Gibt es da Forschungsergebnisse, wie diese Menschen in diesem Lebensabschnitt damit zurechtkommen?
HA: Ja, sogar Negatives gibt eine Prognose einer Studie der Bertelsmann Stiftung, dass die Altersarmut steigen wird auf 25 Prozent gegenüber den 15, 16 Prozent.
KW: Gegenwärtig haben wir in Hamburg rechnerisch 76.000 ältere Menschen, die in Armut leben. Wenn wir die 60 Prozent dazu nehmen, kommen weit über 100.000 Menschen. Da kommt noch mehr, sagen Sie.
HA: Das ist nicht mehr aufhaltbar. Wir haben die diskontinuierlichen Erwerbsbiografien, wir haben viele Frauen mit Sicherungslücken, die oft länger leben als die Partner, dann verwitwet leben. Auch da ist die Lücke in der Alterssicherung. Wir haben drittens höhere Ausgaben für Gesundheitsaufwendungen für Dienstleistungen, die gebraucht werden bei geringeren Mitteln. Und viertens: Die Altersarmut ist eine dauerhafte Armut, weil die Möglichkeiten dazuzuverdienen immer geringer werden, je älter wir werden, aufgrund der Beeinträchtigungen, aufgrund der begrenzten Möglichkeiten, einen Job zu bekommen.
KW: Manche sagen: Ja, dann müssen wir das Rentensystem ein bisschen flexibler machen, also nicht mit 67 Jahren in Rente, sondern flexibel, dann, wenn wir möchten. Wäre das ein Ausweg?
HA: Das würde die Altersarmut, wie wir sie gegenwärtig beobachten, nicht modifizieren. Denn diese Biografien sind gelebt, die Ansprüche sind erworben, und es sind vor allem Menschen im höheren Lebensalter, die in dramatische Armut rutschen, nicht die, die im rentennahen Bereich sind. Die Betroffenen können vielleicht noch improvisieren. Die Aufwendungen werden zunehmen. Wir haben gerade ein Projekt im Rahmen der KulturistenHoch2: ältere Menschen mit jungen Menschen, die an Kultur teilnehmen. Ich habe 25 Interviews mitgelesen und das wird auch gerade publiziert. Es ist eindrucksvoll, wie ältere Menschen eine Freude zeigen an ganz kleinen kulturellen Teilhabemöglichkeiten, um mal andere Perspektiven zu bekommen, die sich das nicht leisten können.
KW: Das fordern wir schon seit langem vom Hamburger Senat. Wenn ich mir Mobilität nicht leisten kann, komme ich auch nirgends hin und bin von der Teilhabe ausgeschlossen. Dann kostenfreie Eintritte in Kultur, Museen, Sportveranstaltungen und Ähnliches. Das würde aus Ihrer Sicht helfen?
HA: Es würde den Alltag ein bisschen bunter machen und den älteren Menschen auch das Gefühl geben, ich gehöre dazu. Kulturteilhabe ist nicht nur ein kurzer Genuss, es ist auch eine Reflexion. Es ist ein Nachdenken über Fragen der Gesellschaft, des Lebens, der Endlichkeit, die dadurch durchaus inspiriert werden können.
KW: Hamburg hätte auch die Möglichkeit, die Grundsicherung im Alter aus eigenen Mitteln aufzustocken. Wäre das aus Ihrer Sicht eine gute Sache, da geht so um 25 Euro im Monat.
HA: Jeder Euro zählt. Das würde nicht alle Lücken decken, die bestehen. Jeder Euro ist wichtig und würde den Alltag ein bisschen erleichtern. Das schulden wir älteren Menschen. Die haben viel geleistet, die haben unter Bedingungen gearbeitet, die heute nicht mehr Realität sind, haben entsprechend auch Kinder großgezogen, haben für andere Elemente der Gesellschaft gesorgt und werden jetzt quasi hängen gelassen. Subjektiv eine dramatische Situation für die Betroffenen.
17:57 Würdevolles Wohnen und Leben in Hamburg für alle ermöglichen
KW: Wäre es nicht wichtig in Hamburg, aber auch in anderen Kommunen, ein Gesamtkonzept zu machen, um Armut zu beseitigen? Es soll bis 2030 die Armut beseitigt sein.
HA: Die Wohnungslosigkeit.
KW: Die Wohnungslosen, nicht die Armut. Das ist immerhin ein wichtiger Weg.
HA: Wir können herumdoktern über Optimierung der Beratung, aber ohne eine Umverteilung, ohne eine politische Entscheidung, die Gelder anders zu verteilen, wird Armut nicht überwindbar sein. Und das bedeutet nicht nur Einkommen. Es bedeutet bezahlbaren Wohnraum, Mobilität, Infrastruktur, in denen Menschen leben können. Es bedeutet eine gesundheitliche Versorgung, die für alle erreichbar ist. Wir haben noch gar nicht über Menschen im Asylverfahren gesprochen, die deutlich unterhalb der Grenzen leben, die wir für menschenwürdig erachten. Noch nicht gesprochen über diejenigen, die ohne gültige Dokumente hier leben, sich durchschlagen in extremer oder radikaler Armut, die ihre Existenz bedroht.
KW: Darüber können wir ins Gespräch kommen. Ich würde gerne noch mal kurz auf den Wohnungsbau umschwenken. Im Moment erleben wir eine Phase, wo die Wohnungsbaugesellschaften sagen, wir können nicht bauen. Ob das nun stimmt oder nicht, können wir jetzt hier im Gespräch wahrscheinlich nicht erörtern. Das Problem ist, dass die Ausmaße, die dadurch entstehen, in Wahrheit dramatisch sind. Es werden auch keine oder ganz wenig Sozialwohnungen gebaut. Wir gehen davon aus, um ein bisschen den Bestand an Sozialwohnungen zu erhöhen, brauchen wir jedes Jahr 5000 neue Sozialwohnungen. Wie sehen Sie das?
HA: Wohnungspolitik hat lange die Subjektförderung betrieben, also Wohnungsbau derer, die sich ein Haus oder eine Wohnung kaufen wollten. Die Umstellung auf Objektförderung, die wir jetzt fordern, braucht eine Übergangszeit. Das braucht Zeit. Diskutiert wird die Vereinfachung der Bauantragsverfahren, da sind x Anträge nötig. Die Phantasien sind hier breiter als die gegenwärtige Wohnungsbaupolitik. Das liegt an rechtlichen Barrieren, liegt aber auch an Bautraditionen, die wir noch mal neu überdenken könnten.
KW: Diese bürokratischen Hürden, das sehen wir auch an verschiedenen Stellen. Wir haben vorhin über die Grundsicherung oder Wohngeld, wo es auch schwierig ist. Müsste da eine große Reform ansetzen und sagen, wir entlasten mal die Behörden von Bürokratie und die Menschen, die beantragen, auch von Bürokratie.
HA: Nur nebenbei. Es geht nie um die mitarbeitenden Behörden, die arbeiten nach Kräften und die baden aus, was teilweise gesetzestechnisch nicht gut funktioniert.
Richtig wäre, wir könnten in vielen Verfahren in meinem Forschungsbereich der Grundsicherung das Antragsverfahren vereinfachen. Dass das in der Pandemie teilweise auch etabliert wurde, geht ja. Das sollten wir unbedingt beibehalten und erweitern, um die Zugänge zu erleichtern. Denn jede Barriere, die jemand davon abhält, heißt Menschenleben unterhalb dessen, was für ein würdevolles Leben gebraucht wird. Das kann politisch nicht gewollt sein, zumal eine Armutszunahme immer auch politische Implikationen hat. Wir denken da an Systemopposition, an Abwendung von bestimmten Strukturen, an den Verlust politischer Loyalität, an Wählerstimmen, die verloren gehen. Das ist auch eine politische Aufgabe, die Kohärenz, den Zusammenhalt der Gesellschaft über Maßnahmen zu unterstützen.
KW: Diesem Zusammenhang der Gesellschaft, das ist eine Frage, mit der wir uns auch sehr auseinandersetzen, wenn wir mal um Deutschland rum gucken. Es gibt einige Staaten wie Polen, Ungarn, Italien oder Frankreich. Dort gewinnt die Rechte richtig in den Umfragen an Wählerstimmen. Es ist bedrohlich und auch in Deutschland ist es nicht ganz so, dass wir sagen können, das gibt es nicht, sondern es entwickelt sich. Ist das nicht eine Vernachlässigung von Politik, wenn sie den Blick nicht genau darauf wendet?
HA: Wenn wir die Publikationen lesen, etwa von Colin Crouch - Postdemokratie oder Jürgen Habermas, dann haben Sie völlig recht mit ihrer Frage. Wenn Menschen den Eindruck gewinnen, ihre Belange spielen politisch keine Rolle, wenn ihre Stimme nicht zur Geltung gebracht werden kann, wenn sie eher erleben, dass Sie den Behörden lästig sind, weil zu viele dahin kommen, dann erfolgt oft eine Abwendung vom System und die beginnt schleichend. Proteste gegen den Antrag: Ich entkoppelte mich vom System der Menschen, die keine Anträge mehr stellen, und das kann nach und nach einwandern in eine postdemokratische oder undemokratische Grundstruktur.
KW: Sie würden denken, dass das auch eine Gefahr ist, die in Deutschland besteht und der wir uns jetzt schon entgegenstellen müssen.
HA: Unbedingt. Die Armut steigt auch in bestimmten Teilgruppen und die Abwendung vom System ist schon beobachtbar. Es wäre klug, nicht nur jetzt auf der Mikroebene nachzudenken, sondern auf der Makroebene, Formen der Beteiligungsstrukturen aufzubauen, damit Menschen nicht nur das Gefühl bekommen, sondern real erleben, dass sie mit ihren Belangen und Interessen, mit ihren Bedürfnissen ernst und wahrgenommen werden.
KW: Indexmieten, also Mieten, die an die Preissteigerung gebunden sind, sind jetzt immer mehr in die Öffentlichkeit gerutscht. Die sind unmoralisch, gerade in einer Zeit, wo wir große Preissteigerungen haben, solche Mietverträge zu machen, die werden jetzt auch noch neu abgeschlossen. In Hamburg gehen wir davon aus, dass es bereits 100.000 solcher Verträge gibt. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um so etwas zurückzudrängen?
HA: Das ist eine Frage des Mietvertragsrecht. Wenn diese Formen verboten würden, gäbe es sie nicht. Das muss rechtlich geregelt werden.Eine Mietbelastung bei mittleren Einkünften schon die über 30 Prozent des Einkommens liegt, als riskant angesehen wird, weil dann jede Erhöhung Mietschulden bedeuten können. Dann ist es umso wichtiger, dass wir im Mietbereich nachdenken, wie wir Mieten so gestalten können, dass Wohnen als Menschenrecht übrigens auch für alle erreichbar wird, wenn das nicht der Fall ist.
24:31 Armut vermeiden: Gute Arbeit und soziale Absicherung gewährleisten
KW: Ein wichtiger Punkt ist auch das, was wir zusammenfassen unter “Guter Arbeit”, also wo wir im Erwerbsleben so viel verdienen, dass wir auch später in der Rente, also über das gesamte Leben, so leben können, dass wir Armut vermeiden. Wo würden Sie da ansetzen?
HA: Die Vermögensbildung in Haushalten mit geringeren Einkünften ist gering. Wir haben heute etwa ein Drittel aller Haushalte, die können keine Ausgaben schultern, die über 1.150 Euro liegen. Die Rücklagen sind darunter und Ausgaben für Waschmaschine, Reparaturen, Behandlungskosten und dergleichen. Die Haushalte würden finanziell quasi kollabieren. Ein Drittel haben nicht mal 1.150 Euro Rücklagen gebildet.
KW: Es gibt ganz dramatische Informationen genau darüber, dass die Menschen, also 30, 40 Prozent, überhaupt kein Geld mehr haben und schon gar nichts zurücklegen kann. Wie wirkt sich das auf unsere Gesellschaft und auf die Teilhabe aus?
HA: Das macht Menschen große Angst. Wir müssten in der Grundsicherung Ersparnisse bilden, idealerweise von 750 Euro, um Ausgaben, die unerwartet kommen, bestreiten zu können. Wenn sie von Grundsicherung leben, wissen Sie, die Rücklagen sind nicht bildbar, es sei denn sie würden hochgebildet, optimal, alle Angebote nutzen. Der Alltag gibt das nicht her.
KW: Das ist das, was wir beklagen, auch beim Bürgergeld. Die Erhöhung ist viel zu niedrig. Es müssen mindestens 150 Euro pro Person dazukommen. Würde das ausreichen? Oder würden Sie sagen, da muss noch ein Stück draufgelegt werden.
HA: Wenn die Erhöhung käme, in der skizzierten Höhe, die Sie eben genannt haben, dann hätten wir die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben im Mindeststandard noch keine Steigerung der Teilhabemöglichkeiten. Bedenken Sie die gegenwärtige Inflationsrate von sieben bis acht Prozent. Trifft Ärmere mit 15 bis 20 Prozent. Die können bei bestimmten Produkten gar nicht ausweichen auf andere Produkte, sind also davon überproportional betroffen. Und die Erhöhung wäre fällig gewesen, wenn wir das Menschenwürdeversprechen ernst nehmen.
KW: Es gibt unterschiedliche Arbeitsformen wie Zeitarbeit, Mini-, Midijobs und Ähnliches mehr. Wie müssen wir mit diesem Bereich umgehen? Auch angesichts des Fachkräftemangels.
HA: Zu bevorzugen wären die sogenannten Normalarbeitsverhältnisse tariflich entlohnt und unbefristet.
KW: Viele Unternehmen haben sich den Tarifen entzogen.
HA: Das ist eine Frage der Tarifpolitik, wie weit die Tarifbindung verbindlich eingeführt werden kann. Nur die anderen Arbeitsformen zu verbieten, wäre sehr bevormunden. Es gibt Menschen, die haben unterschiedliche Erwerbsentwürfe, die wollen temporär arbeiten, die haben andere Entwürfe. Sie tasten sich an Jobs heran und gucken weiter. Hier wäre auch die vorhin angesprochene Vielfalt der Lebensentwürfe stärker Rechnung zu tragen. Unternehmen beginnen ja schon. Es ist heute manchmal ein Arbeitnehmermarkt, in dem Bedingungen formuliert werden können, zumindest bei ausreichender Qualifikation. Menschen in Armut erreichen diese Qualifikation oft nicht, um dann auswählen zu können, wo sie zu welchem Tarif erwerbstätig werden.
KW: Es gibt nach wie vor viele Berufe, wo nicht ausreichend verdient wird. Ich denke an Friseure, Berufe an Kassiererin im Supermarkt und Ähnliches. Wie müssten wir darangehen? Wenn mehr gezahlt wird, werden auch die Produkte teurer?
HA: Das wäre die Kehrseite. Die Kaufkraft ist teilweise vorhanden.
KW: Bei denen, die wenig Geld haben, nicht.
HA: Da müssten die Tarife strukturiert werden, die Grundsicherung erhöht werden, die sozialen Sicherungssysteme adäquat gestaltet werden, um allen die Zugänge zu ermöglichen. Hier wäre eine Differenzierung durchaus denkbar. Es kann nicht sein, dass wir uns weiter gut bedienen lassen, gut versorgen lassen. Die Menschen, die das leisten, haben höhere Gesundheitsrisiken, Armutsrisiko, Ausgrenzungsrisiken. Da hört der Spaß, glaube ich, auch gesellschaftlich auf.
28:46 Wege aus der Armut: Wo kann und muss die Politik ansetzen?
KW: Herr Prof. Dr. Ansen, wenn Sie jetzt am Schluss unseres Gespräches eine Botschaft an die Politik richten oder auch an andere gesellschaftliche Gruppen und sagen, es gibt zwei, drei, vier wichtige Botschaften, die ich habe und denen ich den mitgeben würde. Was wären das für Botschaften?
HA: Ich beginne mal auf der Mikroebene – die Antragsverfahren deutlich erleichtern. Auf der Ebene der Gesetzgebung – das System harmonisieren, die Aufspaltung und Rechtskreisübergangsleistungen abbauen. Unbedingt die Beratung außerhalb der Behörden fördern. Das sind Brücken in Systeme und wichtige Dolmetscher für den Sozialstaat. Die dauerhafte ökonomische Absicherung durch einen besseren Mindestlohn, die für eine ökonomische Absicherung, eine Mindestrente oberhalb der Armutsgrenze, um gar nicht erst diese verdeckten, verschämten Varianten zu kultivieren und wichtig wäre auch den Armen eine Stimme geben, hören, was sie brauchen in ihrem Alltag. Alleinerziehende brauchen andere Hilfen als ältere Menschen, Menschen im Asylverfahren wiederum andere Hilfen und hier Formen finden, eine responsive oder partizipative Politik wäre großartig, auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft.
KW: Wie immer sind so spannende Gespräche viel zu früh zu Ende, Herr Prof. Dr. Ansen. Ich danke Ihnen herzlich für dieses wirklich spannende und aufschlussreiche Gespräch. Ich glaube, wir haben viele Einblicke in die Problematik von Armut in der Gesellschaft und können auch viele Dinge mitnehmen.
HA: Danke schön. Alles Gute weiter.
KW: Vielen Dank auch denjenigen, die uns zugehört haben. Bis zum nächsten SoVD-Podcast “Sozial? Geht immer!”.