SoVD-Podcast: Armutsrisiko Inflation
Wie können wir gegensteuern, soziale Teilhabe sichern und der sozialen Spaltung begegnen?
Armutsrisiko Inflation: Fragen und Inhalte
00:33 Wen trifft die Krise besonders hart und mit welchen Konsequenzen?
03:54 Welche Auswirkungen hat die Inflation auf den Arbeitsmarkt, Löhne und Gehälter?
06:20 Entlastungsmaßnahmen: Sind die Hilfen und neuen Gesetze ausreichend und wirksam?
10:35 Rente und Grundsicherung: Genug, um die Inflation im Alter auszugleichen?
13:52 Inflation und Teuerung: Worauf müssen wir uns einstellen? Was können wir tun?
16:44 Was kommt nach dem Krisenmodus? Ist die soziale Marktwirtschaft noch zukunftsfähig?
Häufig ist es so, dass in Krisen die verletzlichsten Menschen hart getroffen werden. [...] Aber wir reden hier wirklich über die Mitte der Gesellschaft. [...] Es geht um soziale Teilhabe. Wir haben immer mehr Menschen, die nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Das ist die Dramatik! Und das spaltet die Gesellschaft!
“Zu Gast ist Professor Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW) in Berlin. Gemeinsam mit dem Ökonomen diskutieren wir die aktuelle wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland wie auch vor Ort in Hamburg – denn das Armutsrisiko Inflation treibt längst auch den Mittelstand um. Existenzängste und Unsicherheiten greifen weiter um sich. Wie können wir also gegensteuern und sowohl den Einzelnen als auch unsere Gesellschaft als Ganzes stützen, soziale Teilhabe sichern und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich begegnen? Was bedeutet der Preisanstieg für Menschen mit kleinem Einkommen und für die Löhne und Gehälter? Können die Entlastungsmaßnahmen oder das neue Bürgergeld, die Wohngeld-Reform und die Rentenerhöhung die Krisenfolgen abfedern? Was kommt noch auf uns zu – und ist das Modell der sozialen Marktwirtschaft überhaupt noch zukunftsfähig?
Armutsrisiko Inflation: Der SoVD-Podcast zum Lesen
SR: Susanne Rahlf
KW: Klaus Wicher
MF: Marcel Fratzscher
SR: „Sozial? Geht immer!“ Der Podcast vom Sozialverband SoVD in Hamburg mit Klaus Wicher und Susanne Rahlf.
Herzlich willkommen zum Podcast „Sozial? Geht immer!“ hier aus Hamburg. Wir begrüßen heute Professor Marcel Fratzscher. Er ist Ökonom und leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung e.V. in Berlin (DIW Berlin).
00:33 Wen trifft die Krise besonders hart und mit welchen Konsequenzen?
Herr Fratzscher, Sie kennen sich gut in der Entwicklung unserer Wirtschaft aus. Wir haben eine relativ galoppierende Inflation – die Preise steigen. Was macht das mit unserer Gesellschaft?
MF: Die Inflation spaltet unsere Gesellschaft, denn es ist eine zu höchst unsoziale Inflation. Jetzt können wir sagen, Inflation ist immer unsozial, weil die Ersparnisse schrumpfen. Es trifft Menschen mit geringem Einkommen und mit geringen Ersparnissen viel härter. Im Augenblick haben wir eine Inflationsrate von zehn Prozent. Im Durchschnitt sind die Preise über die letzten zwölf Monate um zehn Prozent gestiegen, aber nicht jeder konsumiert die gleichen Dinge. Das heißt, Menschen mit geringem Einkommen, das zeigen unsere wissenschaftlichen Studien, haben eine drei bis viermal höhere Inflation, als Menschen mit sehr hohem Einkommen. Menschen mit geringem Einkommen geben viel mehr ihres monatlichen Einkommens für Dinge aus, die jetzt teurer geworden sind. Das sind vor allem Nahrungsmittel und Energie. Energiepreise sind um 50 Prozent gestiegen, Nahrungsmittel um 20 Prozent über die letzten zwölf Monate. Das trifft Menschen, die wenig haben, besonders hart.
KW: Das ist auch unsere Beobachtung. Wir haben ein Sozialkaufhaus am Osdorfer Born. Das ist eine schwierige Situation vor Ort. Die Menschen erzählen uns, dass durch die steigenden Preise das Portemonnaie viel schneller leer ist. Das ist die Dramatik, in der wir im Moment stecken: Die Menschen kommen, mit dem was sie haben, nicht über den Monat. Das berichten nicht einzelne Personen, sondern eine große Masse. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband hat deutlich gemacht, dass ungefähr 40 Prozent aller nicht mehr sparen können und kein Sparguthaben haben. Das ist dramatisch für die gesamte Gesellschaft, da jetzt auch der Mittelstand richtig betroffen ist.
MF: Das ist genau die Problematik. Häufig ist es so, dass in Krisen gerade die verletzlichsten Menschen hart getroffen werden. Menschen, die Sozialleistungen beziehen, die vielleicht arbeitslos sind. Aber wir reden hier wirklich über die Mitte der Gesellschaft. Diese 40 Prozent, die Sie erwähnen, die keine Rücklagen und Ersparnisse mehr haben.
Viele Menschen sagen: „Ich muss mich irgendwo anders begrenzen, wenn ich so viel mehr Geld für Nahrungsmittel und Energie ausgeben muss. Dann können meine Kinder nicht die Dinge tun, die Kinder machen – zu Ausflügen oder ins Kino gehen. Ich selber kann diese Dinge nicht mehr tun.“ Es geht um soziale Teilhabe. Wir haben immer mehr Menschen, die nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Das ist die Dramatik! Und das spaltet die Gesellschaft!
KW: Das hat einen Umfang angenommen, der vorher gar nicht vorstellbar war. Die Menschen gehen nicht ins Kino oder ins Theater. Selbst einfache Dinge, wie zum Beispiel „Ich fahr mal eben mit der Bahn in die Stadt“, sind ihnen nicht möglich, weil sie das Geld dazu nicht haben.
03:54 Welche Auswirkungen hat die Inflation auf den Arbeitsmarkt, Löhne und Gehälter?
Ich würde gerne noch auf den wirtschaftlichen Aspekt zu sprechen kommen. Im Prinzip ist die Wirtschaft auch sehr stark durch die Preiserhöhungen betroffen und da hängen viele Arbeitsplätze dran. Kommt da eine Gefahr auf uns zu?
MF: Die Gefahr ist da. Ich hoffe, dass sie sich nicht materialisiert. Ein Lichtblick ist der Arbeitsmarkt, der im Augenblick sehr gut aussieht. Unternehmen suchen händeringend nach Beschäftigten – Arbeit ist da. Sie ist häufig nicht gut bezahlt oder nicht gut genug bezahlt. Aber, viele Unternehmen suchen und zwar nicht nur die hochqualifizierten Ingenieure oder Ärzte. Es werden auch Menschen in der Gastronomie oder anderen Bereichen gesucht, die nicht die hohen Qualifikationen oder langen Ausbildungszeiten erfordern. Das ist ein Lichtblick.
Aber, Sie haben es eben auch angesprochen: Die Löhne für die Menschen, die in Arbeit sind, steigen wenig. Im Durchschnitt vier Prozent in diesem Jahr.
KW: Die Gewerkschaften haben zum Teil hohe Forderungen in Bezug auf die Lohn-Preis-Spirale. Stimmt das eigentlich?
MF: Nein, das ist ein Ammenmärchen. Ein Mythos, der falsch ist. Wir sehen keine Lohn-Preis-Spirale. Ganz im Gegenteil. Wir rechnen für das gesamte Jahr mit einer Inflation von neun bis zehn Prozent bei durchschnittlichen Lohnsteigerungen um vier bis viereinhalb Prozent.
Ja, es gibt Menschen, die in manchen Berufszweigen sehr gute Lohnsteigerungen haben. Es sind hier wieder die Menschen mit wenig Einkommen, die häufig auch eine geringe Lohnentwicklung haben. Wir dürfen nicht vergessen: Nur ungefähr die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland sind über Tarifverträge abgedeckt – die Menschen im Niedriglohnbereich sind es in den meisten Fällen nicht. Das heißt, da werden viele keine Lohnsteigerungen oder geringe Lohnsteigerungen bekommen. Und die werden auch nicht die 3.000 Euro steuerfreien Bonus erhalten, den die Bundesregierung möglich macht.
Wir wollen auch die positiven Aspekte hervorheben, nicht nur die kritischen. Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ist ein ganz wichtiger Schritt in diesem Jahr. Diese Erhöhung ermöglicht über sechs Millionen Menschen direkt, und noch einigen mehr indirekt, gute und ordentliche Lohnsteigerungen. Aber: Bei einer Inflation, die so hoch ist und wenn sie länger andauert, sind auch diese Lohnsteigerungen relativ schnell aufgegessen.
06:20 Entlastungsmaßnahmen: Sind die Hilfen und neuen Gesetze ausreichend und wirksam?
KW: Das betrifft vor allem die Menschen, die keinen Anspruch auf Grundsicherung haben, es aber trotzdem schwer haben, über den Monat zu kommen. Da ist dann die Wohngeld-Reform angeschoben worden, die ihre Schwierigkeiten hat bei der Umsetzung – aber da kommen wir vielleicht heute noch drauf zu sprechen.
Aus Ihrer Sicht: Sind die Hilfen, die die Bundesregierung zurzeit auf den Weg bringt, richtig und kommen diese auch an den richtigen Stellen an?
MF: Die Bundesregierung macht viel. Es gibt kein Land in der Welt, das so riesige Wirtschaftshilfen und Unterstützungspakete aufgelegt hat, wie wir das in Deutschland sehen. Allein in der Zeit des Angriffskrieges, wurden drei Entlastungspakete zur Verfügung gestellt. Jetzt wurde zusätzlich die Gas- und Strompreisbremse beschlossen. Insgesamt reden wir bei den Hilfen, die die Bundesregierung verspricht, von knapp 200 Milliarden Euro, also fünf Prozent einer jährlichen Wirtschaftsleistung. Das ist der positive Aspekt.
Die Kritik ist, dass das Geld mit einer Gießkanne verteilt wird. Nicht unbedingt, weil die Politik das so will, sondern weil unser Sozialstaat nicht in der Lage ist, die Menschen so zu identifizieren, dass sie nach ihren Bedürfnissen Hilfe erhalten. Die Gaspreisbremse ist da ein extremes Beispiel: Die, die viel Gas in der Vergangenheit verbraucht haben, kriegen jetzt auch mehr Geld. Die, die wenig verbraucht haben, die sparsam waren, kriegen dementsprechend auch weniger.
KW: Das verstehen wir auch nicht so ganz: Bei der Grundsicherung zum Beispiel weiß man, wer die Sozialleistung bezieht und künftig 53 Euro mehr erhält. Das wird für viele eine geringe Verbesserung sein, aber nicht reichen. Da könnte man doch sehr gezielt mit denen von uns als Sozialverband SoVD geforderten 200 Euro unterstützen.
MF: Da stimme ich Ihnen zu. Sozialleistungen, wie das Bürgergeld, ehemals Hartz IV, aber auch andere Leistungen, reichen hinten und vorne nicht für die betroffenen Menschen aus. Mit dem Bürgergeld gibt es jetzt 53 Euro mehr, das ist Pi mal Daumen eine Erhöhung des Satzes um elf Prozent. Das ist alleine schon im diesem Jahr über die höhere Inflation aufgegessen. Und wir erwarten auch 2023 noch mal eine hohe Inflation. Da hätte ich mir auch einen höheren Satz von deutlich über 600 Euro gewünscht, ähnlich wie der SoVD und andere Sozialverbände.
Wir reden nicht nur über Menschen, die arbeitslos sind, sondern wir reden auch über viele Menschen, die arbeiten und wenig verdienen, die Hilfe brauchen. Die Ausweitung des Anspruchs auf Wohngeld von 600.000 auf zwei Millionen Haushalte ist da ein wirklich wichtiger Schritt. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, den Betroffenen die Information zu geben. Wir sehen in wissenschaftlichen Studien: viele hätten Anspruch auf Hilfen, sei es beim Kinderzuschlag, beim Wohngeld oder beim Heizkostenzuschuss – und nehmen die Hilfen nicht in Anspruch. Da müssen wir aufklären und sagen: „Ja, sie arbeiten und Sie haben wenig Einkommen. Schauen Sie mal, prüfen Sie mal, ob Sie nicht doch Anspruch haben und nehmen Sie die Hilfe von den Sozialverbänden in Anspruch, um sich gut beraten zu lassen.“ Im Augenblick haben viel mehr Menschen Anspruch und könnten diesen wirklich geltend machen.
KW: Das ist auch in Hamburg ein Problem. Die Wohngeld-Behörden sind nicht in der Lage, diese Fälle zu bearbeiten. Die Anträge sind schwer ausfüllbar und die Bescheide kaum zu verstehen. Selbst unsere Fachjuristen haben Mühe diese Bescheide zu verstehen. Das Problem ist: die Betroffenen müssen beraten werden, um zu wissen, ob und welche Ansprüche bestehen. Ein weiteres Problem in Hamburg: die Wohngeld-Ämter sind überlastet und hatten bereits vor Inkrafttreten der Wohngeld-Reform Bearbeitungszeiten von 20 bis 22 Wochen. Solche Schreiben liegen uns vor. Der wirkliche Ansturm kommt jetzt aber erst noch. Hier muss dringend nachgebessert werden, damit die Hilfen auch wirklich ankommen.
10:35 Rente und Grundsicherung: Genug, um die Inflation im Alter auszugleichen?
KW: Ich wollte noch auf die Rentenerhöhung in 2023 zu sprechen kommen. Es wird bejubelt, dass die Rente um rund vier Prozent erhöht wird. Aber das ist doch auch deutlich zu wenig für diesen Personenkreis?! In Hamburg haben laut der Deutschen Rentenversicherung 53 Prozent aller Rentner eine Rente bis 1.000 Euro. Wie helfen wir diesen Menschen?
MF: Das ist die gleiche Problematik, die ich eben angesprochen habe: Wir haben einfach sehr viele Menschen mit wenig monatlichem Einkommen. Dazu gehören nicht nur Menschen, die arbeitslos sind oder wenig Arbeitseinkommen oder geringe Löhne haben, sondern auch viele ältere Mitbürger. Die Rentenentwicklung ist an die Lohnentwicklung gekoppelt – das ist nicht losgelöst. So gesehen können wir sagen: diese rund vier Prozent werden hinten und vorne nicht reichen, wenn wir von einer Inflation von neun oder zehn Prozent ausgehen.
Nicht jeder Rentner braucht die Hilfe. Es gibt viele, die haben gut vorgesorgt – denen geht es gut. Das Geld muss zielgenau bei den Menschen ankommen, die wirklich Hilfe benötigen. Da muss nachgebessert werden. Bei den Menschen, die wenig Einkommen haben, müssen die Leistungen erhöht werden, darum geht es letztlich. Auch bei der Grundsicherung im Alter sind die Regelsätze zu niedrig. Da würde ich mir, ähnlich wie beim Bürgergeld, eine deutliche Erhöhung wünschen. Zumindest die Menschen, die wirklich am unteren Ende sind, dürfen nicht durch die Inflation verlieren. Das wäre das Mindeste als Anspruch, was man als Staat und als Gesellschaft haben sollte.
KW: Hier müsste bei den Menschen, die nicht genug Rente kriegen, nachgesteuert werden. In Hamburg kennen wir die Zahlen: 29.000 Menschen über 65 Jahre kommen nicht mit der Rente aus. Da gibt es im SGB XII eine Regelung: Die Kommune oder das Land kann in diesem Fall die Grundsicherung im Alter aufstocken. Hamburg macht das nicht – München macht das seit vielen Jahren. Das ist eine Möglichkeit, wie auch eine Kommune über die Schwachstellen der Hilfen hinaus helfen könnte
MF: Ja, unbedingt. Hamburg muss dringender als viele andere Städte die Leistungen erhöhen, da die Lebenshaltungskosten extrem hoch sind. Das Wohnen, aber auch die Grundversorgung ist sehr viel teurer. Deshalb es ist muss wichtiger, das dort eine solche Hilfe kommt – das wäre hervorragend investiertes Geld. Dieses Geld für 29.000 Rentner auszugeben, wäre ein Klacks im Vergleich zu den 200 Milliarden Euro, die jetzt an Hilfen aufgelegt wurden.
KW: Unter zehn Millionen Euro im Jahr. Das ist ein Punkt, den besprechen wir mit dem Hamburger Senat.
13:52 Inflation und Teuerung: Worauf müssen wir uns einstellen? Was können wir tun?
Ich würde gerne auf die Preisentwicklung zurückkommen. Das ist ja auch Ihr Kernthema – die volkswirtschaftliche Entwicklung. An welchen Rädchen müssen wir drehen, damit diese Preisentwicklung einzudämmen und zu regulieren, damit die Menschen wieder etwas aufatmen können?
MF: Da befürchte ich, dass ich keine gute Antwort oder keine befriedigende Antwort habe. Zunächst ist es wichtig zu unterscheiden zwischen Inflation und Preisen. Meine Erwartung ist, dass wir 2023 noch eine sehr hohe Inflation haben werden – wahrscheinlich von sieben Prozent. In den Jahren darauf entwickelt sich die Inflation wahrscheinlich in Richtung drei oder zwei Prozent. Das heißt aber nicht, dass die Preise fallen. Sondern das heißt lediglich: die Preise steigen weiter, nur nicht mehr so stark. Meine Erwartung und Sorge ist, dass 2023, vielleicht auch noch 2024, die Inflation, also die Preise, stärker als die Löhne oder die Renten steigen werden. Das heißt: viele Menschen werden sich auf zwei weitere Jahre „Gürtel enger schnallen und weniger Kaufkraft im Portemonnaie“ einstellen müssen. Die soziale Lage wird also nicht besser, sondern eher noch schwieriger. Mir ist bewusst, dass das keine Hoffnung gibt, sondern eher ernüchternd ist. Aber da müssen wir eben gegensteuern – mit all dem, was wir haben.
KW: Das bedeutet, die Bundesregierung muss also nachsteuern. Gibt es von Ihrer Seite Vorschläge, wie man hier helfen könnte? Sie zeigen deutlich: Man kann dem nicht entrinnen – das ist der Punkt. Also muss man die Menschen in dieser Phase stützen.
MF: Das kann man aus meiner Sicht eigentlich nur in zweierlei Hinsicht. Für mich als Ökonom: Die meisten Menschen haben Arbeit, Arbeit muss sich lohnen. Ich glaube, da anzusetzen, und zu sagen, wir brauchen bessere Einkommen und Löhne, gerade für Menschen mit niedrigen Einkommen – da könnte die Bundesregierung einiges tun. Zum Beispiel als Teil des dritten Entlastungspakets sagt die Bundesregierung: „Liebe Unternehmen, ihr dürft euren Beschäftigten 3.000 Euro Prämie zahlen. Das ist steuerfrei und damit helfen wir euch.“
Doch raten Sie mal, wer das zahlen kann und wer das nicht zahlen kann. Wir sehen die Chemie- und die Metallbranche, die Top-Löhne zahlen – die können das. Aber viele der sozialen Berufe oder im Dienstleistungsbereich, wo niedrige Löhne gezahlt werden, die bekommen das nicht. Da wäre ein konkreter Vorschlag, den wir haben, oder den ich habe, zu sagen: „Lieber Staat, liebe Bundesregierung, wenn die Unternehmen das nicht können, macht ihr das doch. Macht doch jeder eine Prämie von 3.000 Euro.“ Das wäre zumindest eine Hilfe. Das ist keine permanente Hilfe, das ist immer eine Einmalzahlung und damit nicht die goldene Lösung, aber zumindest würde es ein bisschen helfen.
KW: Und es schafft Kaufkraft. Das heißt, es nützt auch der Wirtschaft.
16:44 Was kommt nach dem Krisenmodus? Ist die soziale Marktwirtschaft noch zukunftsfähig?
Die Wirtschaft muss sich ja auch auf Veränderungen einstellen, die muss sich umbauen. Die Energieversorgung wird nicht so bleiben, wie sie ist. Da kommen noch große Aufgaben auf uns zu, die auch viel Geld kosten. Wie entwickelt sich vor diesem Hintergrund unsere Gesellschaft?
MF: Wir stehen schon heute an einem Wendepunkt. Denn wir müssen nicht nur ins Soziale, in die Sozialsysteme und in soziale Sicherheit investieren. Wir brauchen viel mehr öffentliche Gelder für Zukunftsinvestitionen in Klimaschutz, in erneuerbare Energien, auch in Bildung und Qualifizierung. Das ist wichtig. Diese Zukunftsinvestitionen müssen hohe Priorität haben. Und im Augenblick befinden wir uns in Deutschland ein bisschen im Krisenmodus.
Die Politik versucht alles im Hier und Jetzt, aber es fehlt die lange Perspektive. Gerade wenn wir über die soziale Komponente sprechen. Wir haben über die Mittelschicht gesprochen, die Rückgrat einer jeder Gesellschaft ist, die schon seit vielen, vielen Jahren eher schrumpft, und die jetzt durch die Krise noch mal hart getroffen wird. Da wirklich anzusetzen und zu sagen, was kann der Staat tun, um bessere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen zu ermöglichen und um soziale Leistungen zu verbessern. Auch das gehört dazu.
Ich finde es unsäglich in der Debatte um das Bürgergeld, dass es heißt Menschen, die nicht arbeiten, liegen in der sozialen Hängematte, die sind faul, die müssen richtige Anreize haben, die müssen auch sanktioniert werden können. Das zeigen wieder unsere wissenschaftlichen Studien. Die große Mehrheit der Betroffenen möchte Teil der Gesellschaft sein, möchte Arbeit haben, möchte Akzeptanz, Respekt und sinnhafte Aufgaben haben. Ich würde mir konkret eine komplette Umgestaltung der Sozialsysteme wünschen, bei der wir wegkommen von dem Fordern und Fördern. Ich halte das für einen völlig falschen Begriff. Wir müssen uns wirklich überlegen: Was braucht jeder Einzelne?! Wir brauchen viel gezieltere, individuelle Förderung, um die Potenziale, auch im positiven Sinne, die riesigen Potenziale, in Deutschland zu heben.
KW: Genau. Diese Diskussion um das Bürgergeld ist fatal. Im Grunde genommen, steckt beim Bürgergeld genau das drin, was sie sagen: Mehr qualifizieren, also mehr Bildung im Sinne einer Berufsausbildung. Da haben wir eine Perspektive für die Menschen, die langzeitarbeitslos sind, die über mindestens zwei Jahrzehnte aus diesem System gar nicht mehr rausgekommen sind. Jetzt gibt es diese Perspektive mit dieser unsäglichen Diskussion. Ich finde das gut, dass Sie das so auch angesprochen haben. Wir haben die gleiche Sicht und wir glauben, dass viele diese Möglichkeiten nutzen werden, auch ohne Sanktionierung. Sondern aus eigenem Antrieb, um ihre Familie und sich selber ernähren zu können.
Ich würde gern am Schluss noch mal auf ein etwas heikles Thema zu sprechen kommen. Sie sprechen ja auch davon, dass die Gesellschaft umgebaut werden muss. Wir müssen auf lange Zeit den Menschen, die wenig haben, helfen, das ist klar. Wird ein solcher Umbau geschafft von den Unternehmen unter kapitalistischen Rahmenbedingungen? Müsste da eine andere Wirtschaftsform her oder kann das gelingen?
MF: Das kann gelingen. Ich glaube, die große Stärke, die wir als Gesellschaft haben, ist die soziale Marktwirtschaft. Ich glaube, wir haben das richtige System. Der Ausgleich von Markt, Wettbewerb und Innovation ist was Gutes. Aber wir brauchen auch die soziale Komponente: Chancengleichheit, sozialen Ausgleich und Solidarität. Ich bin überzeugt, die soziale Marktwirtschaft, unser Gesellschaftsvertrag ist ein gutes Modell. Es funktioniert im Augenblick nicht gut genug. Wir müssen es wieder reparieren. Das ist für mich die Lösung.
KW: Solidarität ist ein Stichwort. Es gibt Krisengewinner: Unternehmen und Menschen, die unglaublich viel Geld verdienen, Vermögen angehäuft haben und enorme Einkommen haben. Es ist aus unserer Sicht wichtig, dass wir hier Solidarität untereinander zeigen und hier ein Stück Umverteilung organisieren. Also von denen, die sehr viel haben, zu denen, die es dringend brauchen. Insofern, finde ich, haben sie dort etwas ganz Richtiges angesprochen und wir nehmen das mit und werden das auch in die Gesellschaft hineintragen. Das ist wichtig, um unser System zu erhalten und uns gegenseitig zu stützen. Es geht dabei ja auch um den Erhalt der Demokratie und der Werte, die wir dort verankert haben.
SR: Ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen, Herr Fratzscher. Ich glaube, es gibt viele gute Denkansätze. Wir stehen vor sehr großen Herausforderungen. Wir kennen das letztendlich alle auch gar nicht. Uns ging es einen sehr langen Zeitraum sehr gut. Jetzt verändern sich die Voraussetzungen. Aber Sozialpolitik muss immer und überall mitgedacht werden. Auch wenn es viele Dinge gibt, über die wir nachdenken müssen.
Vielen Dank für die Inspiration, die Sie uns mit auf den Weg gegeben haben. Bis zum nächsten Mal!
MF: Danke schön.