SoVD-Podcast: Altersarmut in Hamburg
Was kann die Politik tun, um die wachsende Armut im Alter zu entschärfen und die Situation von Menschen mit kleiner Rente nachhaltig zu verbessern?
Altersarmut in Hamburg: Fragen und Inhalte
01:28 Erwerbsminderung: Wenn die Rente nicht zum Leben reicht
07:59 Nachholfaktor im Rentensystem: Wird er zum Problem für Rentner:innen?
12:12 Inflation und Grundsicherung: Menschenwürdiges Existenzminimum sichern und Teilhabe gewährleisten!
20:01 Rentenreform: Was sind die Stellschrauben im Rentensystem?
25:39 Aktienrente: Riskante Altersvorsorge oder Problemlöser?
27:57 Rente ab 70: Zur Anhebung des Renteneintrittsalters
Es kommt nicht nur darauf an, was man sich unmittelbar mit Geld kaufen kann. Wesentlicher Teil eines soziokulturellen Existenzminimums sind auch kostenfreie oder kostengünstige Angebote der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dass es gute Stadtteilzentren, öffentlichen Nahverkehr und öffentliche Dienstleistungen gibt – und ich sagen kann: Auch mit einem niedrigen Einkommen bin ich nicht außen vor.
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Zu Gast ist Prof. Dr. jur. Felix Welti, Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht. Er diskutiert mit uns darüber, was schief läuft im System und ob wir demnächst alle bis 70 arbeiten müssen? Denn im Zuge der aktuellen Preissteigerungen wird die Brisanz der Lage nochmal deutlich: Ob Energie, Strom oder Lebensmittel – alles wird teurer und wer wenig hat, kann sich immer weniger leisten. Gerade ältere Menschen mit kleiner Rente trifft die Inflation besonders hart.

Altersarmut in Hamburg: Der SoVD-Podcast zum Lesen
SR: Susanne Rahlf
KW: Klaus Wicher
FW: Prof. Dr. Felix Welti
SR: „Sozial? Geht immer!“ – der Podcast vom Sozialverband SoVD in Hamburg mit Klaus Wicher und Susanne Rahlf. Herzlich willkommen zu unserem SoVD-Podcast. Mein Name ist Susanne Rahlf.
KW: Mein Name ist Klaus Wicher. Ich bin Landesvorsitzender des SoVD in Hamburg.
SR: Wir wollen heute über das Thema Rente sprechen. Diesmal zugeschaltet, Herr Prof. Dr. jur. Welti. Er hat einen Lehrstuhl für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Universität Kassel im Fachbereich Humanwissenschaften. Dort lehrt er das Recht der Rehabilitation und Behinderung. Neben vielen anderen Aufgaben ist er Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Sie sind Buchautor und waren lange hier in Hamburg ansässig. Sie haben zwar in Ahrensburg das Abitur gemacht, aber das liegt im Prinzip ja direkt dran an der Stadt. Sie haben hier in Hamburg Jura studiert und kennen die Stadt natürlich wie Ihre Westentasche.
01:28 Erwerbsminderung: Wenn die Rente nicht zum Leben reicht
Stichwort Erwerbsminderungsrente: Da gibt es Neuerungen, die parallel zur diesjährigen Rentenerhöhung stattfinden sollen. Allerdings wird dies alles erst zum Juli 2024 greifen. Können Sie das vielleicht ganz kurz und knapp erläutern, was da auf die Menschen zukommt?
FW: Es wird ein Nachhol-Faktor geben, das ist eine sehr wichtige Forderung, die schon von vielen Verbänden, auch vom Sozialverband und aus der Wissenschaft, bei den letzten beiden kleineren Reformen der Erwerbsminderungsrente erhoben worden ist. Wir haben hier eine immer wieder erneuerte Rechtslage gehabt mit der großen Reform im Jahr 2001, die dann dazu geführt hat, dass die Renten wegen Erwerbsminderung deutlich niedriger ausgefallen sind über viele Jahre.
Die Politik hat das sehr zögerlich erkannt, hat 2014 und 2019 in zwei Schritten etwas geändert und die Zurechnungszeit erhöht, das heißt das Alter, auf das bezogen wird. Dann wird die Rente so berechnet, als hätte man länger gearbeitet. Ist also gut für die Renten. Diese Neuerungen der Jahre 2014 und 2019 waren aber nur für neue Renten. Das heißt, alle, die vor 2014 erwerbsgemindert worden sind und in Rente gegangen sind, haben davon nicht profitiert.
So ist der Abstand zwischen den sogenannten Bestandsrentnern, also denen, die schon in der Rente drin waren und den Neurentnern größer geworden. Die Bestandsrentner sind gerade diejenigen, die auch all die Jahre so gesundheitlich eingeschränkt waren, dass sie nicht aus der Erwerbsminderungsrente rausgekommen sind, also eine auch sonst im Leben mit vielen Schwierigkeiten geschlagene Gruppe. Ausgerechnet die haben nichts bekommen.
Es war sehr erfreulich, dass jetzt der Koalitionsvertrag der neuen Mehrheit im Bundestag gesagt hat „Da wollen wir etwas machen“ und das passiert jetzt: Es kommt ein pauschaler Zuschlag, weil man sagt, es wäre für die Rentenversicherung zu kompliziert, das personengenau auf die Rentner auszurechnen, wie viel sie gekriegt hätten, wenn das Recht gegolten hätte. Das finde ich okay.
Was kritikwürdig ist, ist die Höhe im Ganzen, weil die nicht ausgleicht, was über all die Jahre nicht geleistet worden ist. Dass der Zuschlag erst 2024 kommen soll, ist auch ein Problem, weil wir gerade jetzt eine Lage mit Preissteigerung haben. Da im Prinzip etwas nachgeholt wird, was schon lange fällig gewesen wäre, gibt es gute Argumente dafür, dass das früher kommen sollte.
KW: Der SoVD begrüßt diesen Schritt der Bundesregierung. Wir müssen allerdings auch feststellen, dass hiermit auch keine wirkliche Gleichstellung der Erwerbsminderungsrentner erreicht worden ist. Wir hätten uns hier deutlich mehr gewünscht. Aber wir freuen uns erst mal, dass es hier überhaupt zu einer Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten kommt. Denn die Erwerbsminderungsrenten sind in vielen Fällen nicht wirklich hoch und hier bedarf es sozusagen eines Zuschlags. Man spricht von 7,5 % mehr.
FW: Die Erwerbsminderungsrente ist bei den Rentenreformen der letzten 25 Jahre immer wieder vernachlässigt worden und wir haben es hier mit einer Gruppe zu tun, die aus verschiedenen Gründen ganz häufig nicht in der Lage ist, für dieses Risiko private Vorsorge zu betreiben. Wir kommen auch im Zusammenhang mit der Altersrente noch auf die private Vorsorge zu sprechen.
Gegen das Risiko Erwerbsminderung ist das noch viel schwieriger. Teilweise wird man schon in jungen Jahren erwerbsgemindert und hatte noch gar nicht die Gelegenheit, eine private Vorsorge abzuschließen. Teilweise scheitert das auch an der gesundheitlichen Vorbelastung. Das ist ein Risiko, wo es wirklich auf keinen Fall geht, Menschen auf die Privatversicherung zu verweisen. Umso besser müsste das gesetzliche System eigentlich ausgestaltet sein.
KW: Wie schlecht es um die Erwerbsminderungsrenten in Hamburg bestellt ist, können wir an einer Zahl ablesen. In Hamburg haben ungefähr 19.000 Erwerbsminderungsrentner:innen Grundsicherung im Alter beantragt, weil sie von ihrer Rente nicht leben können. Das ist ein deutliches Signal dafür, dass es hier nicht reicht, dass hier richtig verbessert werden muss. Der erste Schritt ist gemacht und vielleicht kann die Bundesregierung sich noch dazu durchringen, diese Verbesserung vor 2024 einzuführen.
SR: Aber warum dann erst 2024, wenn alle anderen Rentner in diesem Jahr tatsächlich mal eine spürbare Erhöhung bekommen? Warum werden die Erwerbsminderungsrenten dann doch so hingehalten?
FW: Die Antwort fällt mir nicht leicht, denn die haben den Pauschalzuschlag gewählt, damit es für die Verwaltung nicht so schwierig ist wie bei der Grundrente. Bei der Grundrente hatten wir das Problem, dass die gesagt haben, wir müssen das schrittweise einführen, weil es für jeden einzelnen berechnet wird. Das kann man noch einsehen. Aber ein Pauschalzuschlag ist ja gerade, damit es schneller kommen kann.
Insofern ist es vermutlich ein Haushaltsthema, wo jetzt aber ohnehin darüber gesprochen wird, wie man damit umgeht, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen, mit Preissteigerung und Krise konfrontiert sind, wäre es meiner Ansicht nach auch angemessen, hier einen früheren Zeitpunkt zu wählen.
KW: Herr Prof.Dr. jur. Welti hat das angesprochen: Rentenveränderung, Rentenerhöhung sind immer politische Entscheidungen wie die gesamte Gesetzgebung. Hier wird oft nach Haushaltslage geguckt. Im Moment ist die Haushaltslage durchaus angespannt. Dennoch müssen wir sagen, bei diesen niedrigen Renten und bei dieser Problematik, bei den Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen, aus dem Erwerbsprozess ausgeschieden sind, da muss eine gewisse Großzügigkeit walten.
Wir fordern das Datum vom 1. Juli 2024 vorzuziehen, sodass sehr viele Erwerbsminderungsrentner rechtzeitig und frühzeitig in den Genuss dieser Verbesserungen kommen.
07:59 Nachholfaktor im Rentensystem: Wird er zum Problem für Rentner:innen?
SR: Herr Prof. Dr. jur. Welti, Sie hatten vorhin schon den Nachhol-Faktor angesprochen, der betrifft nicht nur die Erwerbsminderungsrenten, sondern auch alle Rentner, die jetzt in diesem Sommer ihre Rentenerhöhung bekommen sollen. Warum ist der Nachhol-Faktor da überhaupt so kritisch? Warum ist das ein Problem?
FW: Da finde ich, haben wir eigentlich eine Stärke des deutschen Rentensystems, dass die Rentenanpassung, die jährliche, sich an der Entwicklung der verfügbaren Erwerbseinkommen orientieren soll, sodass ein Gleichschritt da sein soll zwischen dem, was die abhängig Beschäftigten in der Tasche haben, und dem, was die Rentner in der Tasche haben. Nun hatten wir das Problem, dass coronabedingt, dadurch, dass viele Menschen in Kurzarbeit waren, mit Einkommenseinbußen, die verfügbaren Erwerbseinkommen der beitragszahlenden Menschen sich anders entwickelt haben, als das sonst gewesen wäre – und nun also ein Faktor in der Rentenformel ist, der verhindert hat, dass aus dieser Verringerung des Einkommens der Aktiven, eine Verringerung der Renten wird. Das ist an sich gut. Nun war aber die Frage, wie man das Ganze in einen Gleichschritt wieder kriegt. Dazu dient dieser Nachhol-Faktor, der jetzt zu einer Dämpfung führt.
KW: Im letzten Jahr gab es eine Nullrunde. Das mag technisch in Ordnung gewesen sein. Nichtsdestotrotz haben die Rentner nichts gekriegt. Was sie aber bekommen haben, ist eine enorme Preissteigerung im letzten und in diesem Jahr. Das ist mit den kleinen Renten, die wir hier auch in Hamburg haben, eigentlich nicht zu wuppen. Deswegen ist es umso unverständlicher, dass der Nachhol-Faktor jetzt noch mal aus der Mottenkiste geholt worden ist und wiedereingeführt wird.Das ist nicht zeitgemäß und das passt auch nicht in die jetzige schwierige Lage.
SR: Durch die Wiedereinführung des Nachhol-Faktors haben wir gar nicht mehr ein Rentenniveau von 48 Prozent, sondern von 47,3 Prozent. Ist das richtig?
FW: Also diese 48 Prozent, das ist sowieso eine rechnerische Größe, die über alle Renten hinweggeht. Das heißt also nicht, dass der Einzelne 48 Prozent hat, was mancher denkt, wenn man davon spricht. Sondern es heißt, dass sich sozusagen auf der aggregierten Ebene aller Renten ein Niveau von 48 Prozent ergibt, das dann so nicht erreicht wird. Und das ist eine Sache, die durchaus als problematisch festzuhalten ist.
Diese 48 Prozent sind sowieso eine schwierige Größe. Man muss auch viel stärker auf die soziale Ungleichheit gucken. Wenn viele Menschen darunterliegen, unter diesem aggregierten Wert, und von ihrer Rente nicht leben können, dann ist das das eigentliche sozialpolitische Problem. Die Grundrente war so ein im Grundsatz positiver Ansatz zu sagen, das darf nicht sein, man muss von Renten auskömmlich leben können.
Das ist eigentlich das Sicherungssystem der Rentenversicherung, und es wird sehr ungenau mit diesen 48-Prozent-Ziel ausgedrückt, weil ein Durchschnittswert über alle Renten nicht sehr viel darüber aussagt, ob das Sicherungsziel im Ganzen erreicht wird.
KW: Das sehen wir ganz genauso. Es wird hier ein Verhältnis berechnet, die sogenannte Eck-Rente. Also wenn ein Rentner 45 Jahre lang gearbeitet hat. Diese Rente wird ins Verhältnis zum mittleren Einkommen gesetzt. Wer schafft das heute schon, 45 Jahre? Dieses Rentenniveau gibt vielleicht eine Orientierung, aber nicht mehr. Wir müssen viel mehr darauf achten: Wie ist die Lebenssituation der Menschen wirklich?
12:12 Inflation und Grundsicherung: Menschenwürdiges Existenzminimum sichern und Teilhabe gewährleisten!
KW: Ich denke, da werden wir im Gespräch noch darauf kommen. Ich finde da Ihre Einlassung völlig richtig, Herr Prof. Dr. jur. Welti.
SR: Alleine in diesem Jahr hat ein alleinstehender Rentner mit weniger als 900 Euro bzw. um die 1.000 Euro zu leben. Sie müssen allein in diesem Jahr schon 13 Euro mehr für Nahrungsmittel ausgeben. Tanken kostet 7 Euro mehr, Energieverbrauch schlägt schon mit 32 Euro mehr zu Buche. Da wird noch einiges dazukommen, wenn die kalte Jahreszeit sich nähert.Die Rente reicht zum Leben ohne weitere Einnahmen eigentlich nicht, oder Herr Wicher?
KW: Nein. In vielen Fällen ist das so. Wir können das auch in Hamburg an Zahlen ablesen. Seit 2005 haben wir eine immer steigende Zahl derjenigen, die von ihrer Rente nicht leben können und die Grundsicherung im Alter beantragt haben. Das sind jetzt mittlerweile über 28.000 Rentner. Sie haben die durchschnittliche Preissteigerung benannt.
Jeder hat aber seine individuelle Preissteigerung. Gerade bei den Rentnern mit den kleinen Einkommen ist die Preissteigerung wesentlich höher. Wenn wir sehen, der Preis der Kartoffeln hat sich verdoppelt, Speiseöl kann man fast gar nicht mehr kaufen, Paprika um 150 Prozent teurer. Die Rentner mit den kleinen Renten, die kein zusätzliches Einkommen haben, müssen sich erheblich einschränken. Ich sage mal das, was bisher bei uns vielfach ein Fremdwort war, nämlich Hunger, der tritt ein und wir sehen das an den Tafeln in Hamburg.
Die Tafeln haben einen unglaublichen Zuwachs 30 bis 40 Prozent mehr und gleichzeitig verfügen sie nicht über genügend Lebensmittel und Essen, um der Nachfrage nachkommen zu können. Da kann Hamburg auch etwas tun. Hamburg könnte die Grundsicherung im Alter aus eigenen Mitteln erhöhen. Da tut sich Hamburg sehr, sehr schwer. Wir haben Gespräche geführt mit dem Senat und sind an dieser Stelle bisher nicht weitergekommen.
SR: Zumal das Preisniveau hier in Hamburg sowieso schon höher ist als im Umland und in der Metropolregion. Hier müssen die Rentner ja sowieso noch mehr ausgeben, als sie sowieso schon müssen.
KW: Wir haben ein Sozialkaufhaus im Osdorfer Born, dort spreche ich mit den Menschen. Und es ist erschütternd, was mir erzählt wird, wie knapp das geworden ist. Vor allen Dingen auch Familien mit Kindern. Das sind in der Regel nicht Rentner. Die Zahl der alten Menschen, die zu ins SoVD-Sozialkaufhaus Cappello und in die Tafeln kommen, hat so deutlich zugenommen. Da ist richtig großer Handlungsbedarf.
FW: Also ich denke auch mit der Rückkehr der Inflation werden wir jetzt erstmal in nächster Zeit zu tun haben. Man wird sicherlich über nachhaltigere Politikansätze nachdenken müssen, darüber, die Situation für Menschen mit niedrigerem Einkommen erträglicher zu machen. Das gilt sowohl für die Kommunal- und Landesebene, also Hamburg für die Stadtebene, wie auch für die Bundespolitik. Wohnungspolitik ist hier ein zentraler Faktor, an dem ja auch schon seit längerer Zeit diskutiert wird.
Weitere Möglichkeiten wären ermäßigte oder stärker gespreizte Mehrwertsteuersätze, um gerade Lebensmittel des Grundbedarfs günstiger zu halten und möglichst dauerhaft günstige öffentliche Dienstleistungen. Ich denke, dass zwar der Ansatz richtig ist, der gerade diskutiert wird, da im öffentlichen Nahverkehr was zu tun, aber jetzt zu sagen, das beschränkt sich auf drei Monate und ein Billig-Ticket, das ist sicherlich nicht der Ansatz. Gerade diese Mobilitätskosten müssten dann auch in einer umwelt- und klimaverträglichen Weise dauerhaft so gehalten werden, dass Menschen nicht vom öffentlichen Leben ausgegrenzt werden.
KW: Das entspricht unseren Forderungen hier in Hamburg. Das ist völlig richtig. Es gibt das Verfassungsgerichtsurteil, die sagen „Ja, man soll nicht nur überleben können, sondern auch an der Gesellschaft teilhaben.“ Aus unserer Sicht ist das in vielen Fällen nicht mehr gewährleistet. Da würde mich interessieren, wie Sie als Verfassungsrechtler dies beurteilen.
FW: Also die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hat sich vor allem auf die Grundsicherung bezogen. Die Urteile waren also vor allem zur Grundsicherung für Arbeitsuchende.
KW: Wenn ich eben noch sagen darf, gibt es ja 28.000 Rentner und 19.000 Erwerbsminderungsrentner in Hamburg, die bekommen Grundsicherung.
FW: Ja und die Art und Weise wie dieser Grundsicherungssatz berechnet wird, nämlich orientiert am tatsächlichen Ausgabeverhalten von Niedrigverdienenden, wird immerhin dazu führen, dass sich mit einer gewissen Zeitverzögerung die Inflation auch in den Regelsätzen abbildet. Die Regelsätze werden deutlich steigen müssen bundesweit, wenn es bei dem Berechnungsverfahren bleibt, das wir haben. Da geht die Preisentwicklung mit ein.
Unterbelichtet ist in der Diskussion aber, dass es nicht nur darauf ankommt, was man sich nun unmittelbar mit Geld kaufen kann. Sondern, dass eben auch das Vorhandensein bestimmter öffentlicher Dienstleistungen, die kostenfrei oder kostengünstig sind, ein wesentlicher Teil eines soziokulturellen Existenzminimums ist. Dass ich also nicht in allem auf teure Bedarfsdeckung am Markt angewiesen bin, sondern dass es gute Stadtteilzentren, öffentlichen Nahverkehr und öffentliche Dienstleistungen gibt und ich sagen kann: Auch mit einem niedrigen Einkommen bin ich nicht außen vor.
Das ist ja auch der klassische Ansatz der öffentlichen Daseinsvorsorge, die eigentlich in Großstädten mit einer Tradition wie Hamburg gut ausgebaut ist, aber die man auch pflegen muss.
KW: Das ist ein wichtiger Aspekt, wenn wir uns Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes angucken: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ein würdevolles Leben ist nach unserer Auffassung in Armut in Deutschland kein würdevolles Leben.
FW: Das ist auch richtig. Genau hinzuschauen, wo finden eigentlich die Ausgrenzungseffekte statt? Das ist ja der Vorteil, der so ein großer Verband, der mitten im sozialen Leben steht auch hat, dass er diese Beobachtungen macht und dann auch versuchen kann, das in die Politik und auch in die Rechtsanwendung hineinzutragen. Indem man sagt, wir stellen fest, wo die Ausgrenzungseffekte stattfinden, und versuchen auch durch entsprechende Rechtsstreitigkeiten die Dinge geltend zu machen.
Ein Beispiel, das ist jetzt nicht renterspezifisch, das waren diese speziellen Bedarfe für Bildung und Teilhabe in der Grundsicherung, wo noch mal gesagt worden ist: wir müssen das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern mit diesen Sonderleistungen für Vereinsmitgliedschaften oder Schulbesuch. Ich könnte mir vorstellen, dass man auch mal für Gruppen wie Erwerbsgeminderte und Alte genauer darauf guckt, welche sozialen Bedarfe es gibt, die im Moment möglicherweise nicht hinreichend adressiert werden.
Es gibt in Hamburg sicherlich auch dank dem SoVD ein ganz gutes Netz von Tagesstätten und Kulturangeboten, aber dass es die Menschen flächendeckend erreicht und dass man gar kein Geld dazu braucht, das ist halt auch nicht so!
20:01 Rentenreform: Was sind die Stellschrauben im Rentensystem?
SR: All diese Menschen sind auf jeden Fall nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft an ihrer Situation so viel zu ändern, sondern sie sind darauf angewiesen, dass sie Unterstützung von den Kommunen, von der Stadt, vom Staat bekommen. Das macht die Zweifel am bestehenden Rentensystem nicht unbedingt kleiner. Herr Prof. Dr. jur. Welti, wo sehen Sie denn so die größten Knackpunkte in unserem Rentensystem?
Wo müsste man da eigentlich mal grundsätzlich rangehen, um diese Situation für die Menschen im Alter dann auch langfristig und grundsätzlich zu verbessern?
FW: Ja, da ist man immer so hin und hergerissen. Ich sage immer: Grundsätzlich verteidige ich unser soziales Rentensystem als soziales Rentensystem. Wenn man das verteidigt, heißt es aber auch, auf die Schwachpunkte aufmerksam zu machen. Man muss nur gucken, dass man nicht in dieses Fahrwasser von der Kritik läuft, die eher darauf hinausläuft, das ganze System zu privatisieren. Weil das würde, glaube ich, die Probleme nur verschärfen.
Wenn wir sagen, wir brauchen ein sozialrechtlich organisiertes und durchaus auch weiter finanziertes Rentensystem, dann hat man verschiedene Schwachpunkte. Derjenige, der 45 Jahre ein Durchschnittseinkommen erzielt, ist eine Fiktion. Diese Menschen sind an sich in der Minderheit, die auf diese Weise ihr Rentenniveau sichern können. Die Rentenversicherung muss also berücksichtigen, dass aufgrund von Arbeitslosigkeit, Niedrigeinkommensperioden, die es in der Vergangenheit gegeben hat für viele Menschen. Und auch heute noch gibt im Niedriglohnsektor, dass aufgrund von Erziehungszeit und auch aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen Menschen eben dieses Idealbild eines lebenslangen Einzahlens in die Rentenkasse nicht erreichen können. Auch für die muss ein auskömmliches Rentenniveau gesichert sein. Grundrente in der jetzt beschlossenen Form ist da sicherlich nur der erste Schritt, der aber immerhin zeigt, dass dieser Handlungsbedarf erkannt worden ist.
Ein zweiter grundsätzlicher Webfehler ist, dass diese ominösen 48 Prozent auf der Annahme aufbauen, dass jede:r auch privat oder betrieblich vorsorgen kann. Das ist ebenso eine realitätsferne Annahme. Die Bedingungen im Zugang zur privaten Altersvorsorge sind für die Menschen sehr unterschiedlich. Da, wo man selber entscheiden kann, ob man in einer bestimmten Lebensphase die dafür aufzuwenden zusätzlichen Beiträge für entbehrlich halten kann oder nicht. Oder ob sie zum Beispiel von Wohnkosten oder von der Sorge darum, dass die Kinder auch gut versorgt sind, dann verwendet werden und eben nicht für eine private Altersvorsorge.
Das Zweite ist, dass private Altersvorsorge auch ineffizient ist, weil sie sehr hohe Verwaltungskosten hat. Einfach weil die Versicherungsunternehmen gegeneinander Werbung machen müssen, das ganze Netz von Versicherungsvertretern bezahlt werden muss. Da ist die betriebliche, tariflich geregelte Vorsorge schon besser, weil sie für viele ist. Aber da wir nicht alle Menschen in guten, tariflich gesicherten Beschäftigungsverhältnissen haben, ist das eben auch kein für alle verallgemeinerbares Modell. Es sei denn, man würde eine Pflicht zur Betriebsrente einführen, darüber könnte man nachdenken. Ich glaube aber, dass wir uns jedenfalls von der Fiktion der 2003 gemachten Reform verabschieden müssen, dass jede:r eine private Altersvorsorge hat. Das funktioniert nicht.
KW: Man könnte natürlich an den von Ihnen genannten Punkten ansetzen und sagen: Da machen wir Rentenverbesserung.
Stichwort: Mütterrente. Was passiert eigentlich, wenn eine Frau sehr lange aus dem Arbeitsprozess ausscheidet? Dann reicht die Mütterrente natürlich nicht aus. Oder was auch überwiegend Frauen machen: zu Hause pflegen. Hier sind nur geringe Rentenanwartschaften zu erwarten.
Das sind zwei Punkte, wo Frauen besonders betroffen sind. Zudem verdienen sie im Durchschnitt 20 Prozent weniger bei gleicher Tätigkeit wie Männer. Hier sind verschiedene Benachteiligungen, die man ausgleichen muss. Ich denke aber auch an die Langzeitarbeitslosen. Ein Hartz-IV-Empfänger, der arbeitslos ist, erhält keinen neuen Anspruch auf Rente. Das war früher auch anders und auch hier könnte der Gesetzgeber natürlich einiges machen.
Es gibt ein paar Stellschrauben, die ich jetzt gar nicht alle aufgezählt habe, an denen man im Rentensystem was machen könnte. Und ich möchte noch mal sagen: In Hamburg „Hochlohnland“ haben 53 Prozent aller Rentner eine Rente bis 1.000 Euro. Muss man ehrlich sagen: die sind nicht alle arm. Nein, da gibt es das berühmte Beispiel der Arzt-Gattin mit ihren 250 Euro Rente. Die ist nicht arm, weil das Familieneinkommen natürlich insgesamt viel höher ist. Aber es sind viele Arme dabei. ¾ aller Rentner in Hamburg haben eine Rente höchstens von 1.400 Euro. Man kann wirklich sagen: Das Rentensystem ist reformierbedürftig und zwar dringend. Damit die Menschen vor allen Dingen jetzt in dieser Phase, wo alles mehr kostet, also wo sie auch nicht ausweichen können, wo man auch bei Lidl und Aldi hohe Preise hat, dass man da noch mal grundlegend an das Rentenrecht rangeht.
25:39 Aktienrente: Riskante Altersvorsorge oder Problemlöser?
Da gibt ja eine Idee: das ist die Aktienrente. Wie sieht das aus Ihrer Sicht aus? Ist das eine Verbesserung, auf die wir hoffen sollten?
FW: Ich habe ja meine Skepsis gegenüber Formen der privaten Altersvorsorge schon geäußert. Die wird auch durch dieses Stichwort der Aktienrente nicht ausgehebelt. Man kann natürlich gucken, es gibt Länder, die auch in die Richtung private Altersvorsorge gegangen sind, aber dabei bessere Ergebnisse erzielt haben als Deutschland. Zum Beispiel Schweden, wo es sehr große, dann auch öffentlich gemanagte Fonds gibt und wo gesagt wird: Wer sich nicht selber Aktien kauft, der bekommt Zugang zu einem solchen öffentlich gemanagten Fonds, der versucht von der Wertentwicklung an den internationalen Aktienmärkten zu profitieren.
Wenn man denn schon meinen würde, ohne private Altersvorsorge nicht auszukommen, dann ist es sicherlich besser, man strickt das System so, dass alle Zugang dazu haben. Also wie es bisher in Deutschland gewesen ist, wo eigentlich von der Riester Förderung nur diejenigen profitiert haben, die sich das auch leisten konnten Geld zur Seite zu legen. Hier wurden mit großen Steuererleichterungen Menschen subventioniert, die kleinere soziale Probleme haben als die, die sich das leisten konnten. Davon müssen wir jetzt ganz bestimmt weg. Ob es wirklich weise ist, das über eine Aktienrente zu machen? Wenn Sie für alle verpflichtend zugänglich gemacht wird, ist das vielleicht besser als nichts.
KW: Sie muss natürlich dann auch vom Staat abgesichert werden. Das kann nicht sein, dass eine Rente vom Auf und Ab des Aktienmarktes abhängig ist. Wir sind da außerordentlich skeptisch. Ich wollte noch Einblick in die Idee einer Erwerbstätigen-Versicherung werfen. So etwas haben wir in Österreich. In Österreich sind die Renten deutlich höher als in Deutschland.
Mein Vorschlag wäre, dass wir dieses Thema noch mal nutzen, um mit Herrn Prof. Dr. jur. Welti weiter darüber zu sprechen: Was kann man in der Zukunft machen? Wo sollte das Rentensystem reformiert werden, damit für alle ein gesicherter Lebensabend erreicht werden kann?
27:57 Rente ab 70: Zur Anhebung des Renteneintrittsalters
SR: Das ist ein sehr umfangreiches Thema, was wir jetzt hier nur so ganz kurz und schlaglichtartig beleuchten konnten. Herr Prof. Dr. jur. Welti, eine provokante Frage habe ich noch. Es gibt jetzt den alternativen Vorschlag, um unser Rentensystem vielleicht auch ein bisschen aufzuhübschen, das Renteneintrittsalter mal wieder zu erhöhen. Also von den sportlichen 67 weiter rauf gen 70 Jahre. Was halten Sie davon?
FW: Also auch da gilt: Man darf nicht von den sozialen Realitäten abstrahieren. Rente mit 67 Jahren und erst recht Rente mit 70 Jahren ist nicht das gleiche für Menschen in unterschiedlichen Berufen und mit unterschiedlichen sozialen Bedingungen. Es gibt Menschen, für die stellt sich das schlicht als Rentenkürzung dar, weil sie dieses Alter nicht erreichen können im Erwerbsleben. Für diese Menschen bleibt dann nichts anderes übrig, als zum Beispiel in die Erwerbsminderungsrente zu gehen oder, wenn sie deren Voraussetzungen gerade nicht erreichen, im schlimmsten Fall sogar vorher in die Arbeitslosigkeit zu rutschen.
Das darf nicht sein, wenn man sich überhaupt dem Gedanken nähert. Das gilt auch schon für den bereits gesetzgeberisch laufenden Prozess zur Rente mit 67 Jahren. Dann ist das ein Grund, über die Arbeitsbedingungen älterer Beschäftigter zu sprechen und hier wirksame Möglichkeiten der Altersteilzeit, Rehabilitation zu schaffen oder auch zu sagen, gesundheitlich belastende Berufe haben andere Altersgrenzen als gesundheitlich weniger belastende Berufe. Das ist durchaus denkbar. Zum Beispiel auch ein erleichterter abschlagsfreier Rentenzugang für Schwerbehinderte wäre eine mögliche Kompensation für ansteigende Regelaltersgrenzen. Wenn der Zug in die Richtung geht, dann muss man über solche Dinge sehr intensiv diskutieren.
SR: Viele Fragen, viele Vorschläge für ein Thema, an dem wir noch lange herum knabbern werden müssen, denke ich mal. Herr Prof. Dr. jur. Welti, vielen Dank für Ihre Zeit und für Ihre durchaus sehr informativen Einlassungen. Wir werden uns wahrscheinlich wieder hören, denn wie gesagt, das Thema ist ein sehr umfangreiches und wir sind froh und dankbar, dass wir mit Ihnen darüber sprechen konnten von Ihrer kompetenten Seite aus. Vielen Dank.
KW: Ich danke auch herzlich dafür für das wunderbare Gespräch und bedanke mich bei denjenigen, die jetzt den Podcast eingeschaltet haben. Vielen Dank! Und dann bis zum nächsten Podcast, Ihr Klaus Wicher.