Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)
Stellungnahme des SoVD zum Entwurf einer sechsten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizinverordnung
1. Eigenständige Stellungnahmemöglichkeit für den SoVD
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) nimmt die Möglichkeit zur Stellungnahme zum Referentenentwurf einer 6. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizinverordnung (im folgenden 6. VersMedÄndVO) vom 10.12.2008 vorliegend gern wahr.
Gleichwohl bittet der SoVD darum, zukünftig unmittelbar, und nicht nur über das Aktionsbündnis des Deutschen Behindertenrates, die Möglichkeit zur Stellungnahme zu erhalten. Denn die Verbände des DBR vertreten ihre politischen Anliegen in aller Regel selbst; der DBR kann als Aktionsbündnis nur auf ausdrücklichen, einstimmigen Beschluss der DBR-Gremien aktiv werden. Insoweit sieht der DBR in politischen Gesetzgebungsprozessen von eigenen Stellungnahmen grundsätzlich ab. Wir verweisen insoweit auf das Schreiben des DBR an Ihr Haus vom 7.11.2014.
2. Beteiligung der Behindertenverbände
Die Überarbeitung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist ausweislich des Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) eine Maßnahme zur Umsetzung der Konvention in Deutschland. Art. 4 Abs. 3 BRK normiert die Partizipation der behinderten Menschen über die sie vertretenden Organisationen als verfahrensrechtliches Grundprinzip. Das Partizipationsgebot ist daher auch bei der Überarbeitung der VersMedVO zwingend zu berücksichtigen.
Es ist nicht hinnehmbar, dass große Behindertenverbände wie der SoVD bislang von der Beiratsarbeit nach § 3 VersMedVO vollständig ausgeschlossen sind. Der SoVD verfügt im Bereich der Versorgungsmedizin nicht nur über breite sozialpolitische Erfahrungen und Fachkenntnisse, sondern auch über langjährige, umfangreiche Beratungspraxis. Diese bleiben jedoch ausgeklammert, wenn ausschließlich ärztliche Vertreter/-innen im Beirat mitarbeiten. Ein verbandliches Vorschlagsrecht für ärztliche Sachverständige ersetzt die unmittelbare Verbändebeteiligung nicht.
Das Erfordernis, Behindertenverbände im Beirat zu beteiligen, gilt umso mehr, als die 6. VersMedÄndVO vorgibt, sich über das medizinische Modell von Behinderung hinaus am teilhabeorientierten, modernen Behinderungsbegriff nach ICF auszurichten. Nicht mehr nur medizinische Sachverhalte, sondern verstärkt Teilhabeeinschränkungen rücken damit in den Focus. Ein weiterhin ausschließlich mit Ärzten besetzter Sachverständigenbeirat bildet diese Weiterentwicklung jedoch nicht ab, sondern schreibt die vorrangig medizinische Perspektive fort.
Der SoVD fordert daher eindringlich, Vertreter/-innen von Behindertenverbänden die Mitarbeit im Sachverständigenbeirat nach § 3 VersMedVO zu ermöglichen, auch wenn diese keine Ärzte sind. Konkret schlägt der SoVD vor, in § 3 Abs. 2 bei der Formulierung des Passus „Sachkundige ärztliche Vertreter“ das Wort „ärztliche“ zu streichen und den Behindertenverbänden konkret drei Plätze innerhalb des Sachverständigenbeirats vorzubehalten.
3. Neuer Behinderungsbegriff
Die 6. VersMedÄndVO hat das erklärte Ziel, die Begutachtungskriterien unter Beachtung des biopsychosozialen Modells des modernen Behinderungsbegriffs der WHO-Klassifikationen der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) zu verbessern. Dieser Zielsetzung stimmt der SoVD grundsätzlich zu.
Gleichwohl ist es notwendig und richtig, bei der versorgungsmedizinischen Begutachtung nach § 69 SGB IX Beeinträchtigungen der Teilhabe auch zukünftig nicht auf sämtliche Kontextfaktoren zu beziehen, welche die Teilhabe – bezogen auf die konkret-individuelle Lebenslage einer Person mit Behinderung – beeinträchtigen können. Stattdessen befürwortet der SoVD den im Verordnungsentwurf gewählten Ansatz, bei der Beurteilung der Teilhabebeeinträchtigung an die für die Gesundheitsstörung relevanten Faktoren anzuknüpfen. Die Bewertung der Aktivität und Teilhabe ist insoweit in einer standardisierten Umwelt zu beurteilen. Anderenfalls könnte die Bemessung eines Grad der Behinderung (GdB) z. B. davon abhängig werden, ob eine gehbehinderte Person im Erdgeschoss oder im 5. Obergeschoss eines mehrstöckigen Wohnhauses wohnt oder ob sie z. B. über eine gute familiäre Anbindung verfügt, um Teilhabeeinschränkungen zu verhindern.
Zwar ist die Berücksichtigung konkret-individueller Lebenssituationen und sämtlicher Kontextfaktoren der ICF unverzichtbar, um über konkrete leistungsrechtliche Fragen (z. B. die Finanzierung eines Treppenlifts) zu entscheiden. Darum geht es bei der statusrechtlichen Feststellung einer Behinderung (GdB) nach § 69 SGB IX jedoch nicht. Rechtsfolgen einer GdB-Feststellung sind stattdessen abstrakte Nachteilsausgleiche (z. B. Freifahrt im ÖPNV ) und Schutzrechte (z. B. besonderer Kündigungsschutz). Umfassende, datensensible Erhebungen individueller Kontextfaktoren wären heirfür weder erforderlich noch sachgerecht.
Im Interesse einer transparenten, vorhersehbaren und vergleichbaren Praxis der Versorgungsverwaltung befürwortet der SoVD daher, die Begutachtung nach § 69 SGB IX an gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Funktionseinschränkungen und daraus resultierende Teilhabebeeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft auszurichten, und nicht die individuellen Kontextfaktoren einer Person einzubeziehen. Dies liegt nicht nur im Interesse der Betroffenen, sondern ermöglicht auch Praktikabilität für die Verwaltung.
Der SoVD weist im Zusammenhang mit dem neuen, ICF-basierten Behinderungsbegriff der VersMedVO ergänzend darauf hin, dass die insoweit maßgebliche formelle Rechtsgrundlage des § 2 SGB IX diese Weiterentwicklung bislang nicht erfahren hat.
4. Bemessung des GdB – Berücksichtigung von Hilfsmitteln und Gebrauchsgegenständen bei guter Versorgungsqualität
In Teil A-1 Ziffer 1.2 ist der – neue – Grundsatz niedergelegt, dass nunmehr der GdB für die Funktionseinschränkung angegeben ist, die sich unter Einsatz von Hilfsmitteln und allgemeiner Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens ergibt. Zusätzlich ist gemäß Ziffer 1.5 in diesem Kontext von einer guten Versorgungsqualität auszugehen.
Zwar erfolgt schon heute die Sehschärfemessung zur Bestimmung des Sehbehinderungsgrades mit Brille oder sonstiger Korrektur. Dies lässt sich jedoch auf die weiten Bereiche der Hilfsmittelversorgung bei anderen Indikationen nicht übertragen. Die generelle Bemessung einer Funktionseinschränkung unter Einsatz jeglicher Hilfsmittel begegnet aus Sicht des SoVD ganz erheblichen sozial- und rechtspolitischen Bedenken.
Die Neuregelung berücksichtigt zum einen nicht, dass der Einsatz von Hilfsmitteln oft gar keinen vollen Ausgleich von Teilhabebeeinträchtigungen gewährleisten kann. So kann dies z. B. nach unterschiedlichen Lebenssituationen differenzierend zu beurteilen sein (Bsp.: Unterschiedliche Einsetzbarkeit eines (optimal angepassten) Hörgeräts einer Person im Alltag in Abgrenzung zu Ruhesituationen). Wie dem bei der Bemessung des GdB Rechnung zu tragen wäre, bleibt ungeklärt. Überdies eröffnet dieser systematische Neuansatz („Optimum-minus-X“-Logik) die Option, dass z. B. ein beidseitig unterschenkelamputierter Mensch bei bestmöglicher prothetischer Versorgung überhaupt kein GdB mehr attestiert werden könnte, obgleich ihm weiterhin beide Beine fehlen und er insoweit Einschränkungen in seinem Lebensalltag hat.
Auch bleibt offen, anhand welcher Maßstäbe die „Bemessung einer guten Hilfsmittelversorgung“ erfolgt, an der die Einzelfallprüfung auszurichten wäre. Gerade in der Hilfsmittelversorgung handelt es sich um einen überaus breiten, dynamischen und sich permanent ändernden Angebotsmarkt. Letzteres begründet überdies ein Spannungsverhältnis zur längerfristig ausgerichteten Feststellung eines GdB. Fraglich würde z. B., ob die Festsetzung eines GdB dann neu erfolgen müsste, wenn sich der Hilfsmittelmarkt in relevantem Maße weiterentwickelt bzw. verbessert, so dass eine „veraltete“ Versorgung des Betroffenen einen höheren GdB bedingen müsste.
Auch erscheint unklar, wie die Versorgungsverwaltung in ihrer konkreten Praxis den Stand einer „guten Hilfsmittelversorgung“ kennen und den konkreten Einzelfall in Relation dazu bewerten soll. Hierfür sind dezidierte fachliche Kenntnisse zum aktuellen Stand der Hilfsmittelversorgung sowie im Einzelfall ein ganz erheblicher Ermittlungsaufwand erforderlich. Ob und wie die Versorgungsverwaltung dies - angesichts millionenfacher Feststellungsverfahren nach § 69 SGB IX – in der Praxis überhaupt leisten kann, bleibt fraglich.
Der SoVD befürchtet insoweit, dass die beabsichtigte Neuregelung zu einer erheblichen Beweislastverschiebung zulasten der Betroffenen führt. Den Betroffenen obläge es zukünftig, darzulegen und ggf. zu beweisen, warum in ihrem konkreten Einzelfall von einer guten Hilfsmittelversorgung gerade nicht ausgegangen werden kann. Dies erschwert die Vergleichbarkeit von Sachverhalten, da Abweichungen stets einzelfallbezogen geprüft und entschieden würden; dies trifft sozial benachteiligte Menschen besonders, da sie ihre Rechte schwerer wahrnehmen können. Die Beweislastverschiebung hätte auch nachteilige Wirkung auf die Rechtsberatungspraxis des SoVD, deren hohe Qualität auch im Interesse der Versorgungsverwaltung (Entlastung) liegt.
Nicht zuletzt müssten Ärzte die Qualität der Hilfsmittelversorgung verstärkt in ihre gutachterlichen Stellungnahmen aufnehmen. Es erscheint fraglich, inwieweit z. B. bei Hausärzten hierzu differenziert erforderliches Wissen vorhanden ist. Überdies würde so auch ein erhöhter Begutachtungsaufwand generiert, der ohne finanzielle Rahmung zu weiteren Erschwernissen für die Betroffenen führt.
Weiterhin bleibt unklar, in welchem Verhältnis die „gute Versorgungsqualität“ zum Wirtschaftlichkeitsgebot der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), § 12 SGB, V steht. Gerade im Hörgerätebereich sorgen Festbetragsregelungen dafür, dass Betroffene von der GKV Hörgeräte nur bis zur Festbetragshöhe finanziert erhalten und oft erhebliche wirtschaftliche Aufzahlungen leisten müssen, um eine für sie tatsächlich gute Versorgungsqualität zu erreichen. Welche Hilfsmittelstandards insoweit für die „gute Versorgungsqualität“ entscheidend sei sollen - das abstrakt am Markt verfügbare, eine gute Versorgungsqualität sichernde Hilsmittel, das durch Aufzahlung vom Betroffenen erwerbbare oder lediglich das real (mit/ohne Aufzahlung) erworbene Hilfsmittel oder aber (nur) das durch den Festbetrag „indizierte“ Hilfsmittel - dazu finden sich keinerlei Ausführungen im Verordnungsentwurf.
Abschließend verweist der SoVD auf den problematischen Umstand, dass die Berücksichtigung guter Hilfsmittelversorgung bei der GdB-Festsetzung teilhabeerschwerend wirkt; es würde zur tatbestandlichen Voraussetzung gemacht, was in der Rechtsfolge ggf. erst begehrt wird. So ist z. B. nach § 19 der Ausgleichsabgabeverordnung die Beschaffung technischer Arbeitshilfen vom Integrationsamt nur dann finanzierbar, wenn der Betroffene den Schwerbehindertenstatus bereits hat. Die neuen Begutachtungsgrundlagen würden insoweit teilhabeerschwerend wirken, obwohl das (rechtsfolgenseitige) Recht dem gerade entgegenwirken möchte.
Im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal „Gebrauchsgegenstände“, deren optimale Versorgung für die Bemessung des GdB ebenfalls zugrunde gelegt werden soll, verweist der SoVD darauf, dass es hierfür – in Abgrenzung zu Hilfsmitteln – weder taugliche Begriffsdefinitionen, noch rechtliche Leistungsansprüche des Betroffenen gibt, so dass der Maßstab der Bewertungsgrundlagen noch fraglicher scheint als bei Hilfsmitteln.
Vor dem Hintergrund der umfänglichen Bedenken und Schwierigkeiten fordert der SoVD mit Nachdruck, die Bemessung eines GdB nicht vom Einsatz von Hilfsmitteln (und allgemeinen Gebrauchsgegenständen) abhängig zu machen.
5. Neuregelung im Bereich der bisherigen Heilungsbewährung
Es ist beabsichtigt, das Recht der Heilungsbewährung nicht fortzuschreiben, sondern durch eine pauschale Erhöhung des GdB zu ersetzen.
Zwar konstatiert der SoVD aus seiner Beratungspraxis heraus erhöhte Gutachtenstreitigkeiten, wenn eine Heilungsbewährung endet und der GdB im Anschluss festzustellen ist. Hier würde das vorliegende neue Konzept der „pauschalen Erhöhung des GdB“ entgegensteuern.
Gleichwohl besteht nach Ansicht des SoVD kein tiefgreifender Grund, das Konstrukt der Heilungsbewährung in seiner grundsätzlichen Ausrichtung in Frage zu stellen und durch die „pauschale Erhöhung des GdB“ zu ersetzen. Das Konzept der „pauschalen Erhöhung“ kann für die Betroffenen zu erheblichen Verschlechterungen zum jetzigen Recht führen.
Denn die pauschale Erhöhung ist erst und nur dann möglich, wenn ein GdB für die voraussichtlich dauerhaft verbleibende Teilhabebeeinträchtigung festgestellt werden kann. Erst und nur dann kann eine pauschale Erhöhung des GdB um 30 erfolgen. Fehlt es jedoch an der Prognose einer dauerhaft verbleibenden Teilhabebeeinträchtigung, so wäre zukünftig auch kein Raum mehr für eine „pauschale Erhöhung“ des GdB. Dies bedeutet eine erhebliche Schlechterstellung der Betroffenen im Vergleich zum jetzigen Recht der Heilungsbewährung – gerade im Hinblick darauf, dass die in Rede stehenden Gesundheitsstörungen zwingend unbehandelt progredient oder remittierend und auch bei erfolgter Therapie potenziell tödlich verlaufen müssen (Teil A-1 Ziffer 2.3).
Hier handelt es sich folglich um ganz erhebliche gesundheitliche Erkrankungen mit schwersten psychischen Belastungen für die Betroffenen. Anders als das Konzept der „pauschalen Erhöhung“ trägt das Konzept der Heilungsbewährung der mit der Erkrankung verbundenen Ungewissheit und Belastung, z. B. bei einer Krebsdiagnose für die Betroffenen, Rechnung. Denn für sie ist zum Zeitpunkt der Erkrankung weniger von Relevanz, welche Teilhabebeeinträchtigung „voraussichtlich dauerhaft verbleiben wird – woran das Konzept der „pauschalen Erhöhung“ jedoch anknüpft.
Daher sollte das Konzept der Heilungsbewährung nicht ohne Not aufgegeben werden.
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik
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