Bundesteilhabegesetz (BTHG)
Anforderungen an ein Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen aus Sicht des SoVD
Gemäß Koalitionsvertrag soll in dieser Legislaturperiode die Eingliederungshilfe reformiert, aus dem bisherigen Fürsorgesystem herausgeführt und zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickelt werden.1 Hierzu erarbeitet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) derzeit das Bundesteilhabegesetz. Dem vorgeschaltet war ein beispielhafter Beteiligungsprozess, in dem das BMAS mit wichtigen behindertenpolitischen Akteuren, darunter dem SoVD, mögliche Inhalte des Bundesteilhabegesetzes ausführlich beraten hatte. Nach aktuellen Verlautbarungen soll das Bundesteilhabegesetz 2016 im Bundestag beschlossen werden.
Der SoVD nimmt dies zum Anlass, die aus seiner Sicht zentralen Anforderungen an ein Bundesteilhabegesetz zu benennen. Er knüpft dabei an seine früheren Positionen an2 und aktualisiert diese im Hinblick auf neue Diskussionsstände.
1. Bundesteilhabegesetz (BTHG) braucht dringend finanziellen Rahmen für Leistungsverbesserungen
Der SoVD sieht in der Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes eines der zentralen behindertenpolitischen Reformvorhaben dieser Legislaturperiode. Gleichwohl betont der SoVD, dass für die Reform auch die erforderlichen finanziellen Ressourcen dringend bereitgestellt werden müssen. Der SoVD erwartet konkrete verfahrens- und materiell-rechtliche Leistungsverbesserungen für Menschen mit Behinderungen – in Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) und der dort verbrieften Rechte auf volle und wirksame Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen. Dafür braucht es auch finanzielle Ressourcen.
Aktuelle finanzpolitische Rahmenbedingungen geben Anlass zur Sorge. Bereits die von der Bundesregierung im März 2015 beschlossene Entkopplung der kommunalen Entlastung in Höhe von 5 Mrd. Euro einerseits von der Reform Bundesteilhabegesetz andererseits hat die politischen Handlungsspielräume erheblich eingeengt. Neue sozialpolitische Entwicklungen und Einsparforderungen des Bundesfinanzministers3 an alle Bundesressorts nähren die Sorge, dass der finanzielle Rahmen für die Reform weiter schrumpfen könnte.
Einer „Reform um ihrer selbst willen“ oder gar einem Spargesetz mit Leistungseinschränkungen wird sich der SoVD im Interesse der Menschen mit Behinderungen entschieden entgegenstellen. Nur wenn tatsächlich spürbare Leistungsverbesserungen erreicht werden, sollte das Bundesteilhabegesetz auf den Weg gebracht werden. Für unverzichtbar sieht der SoVD hierbei die Frage der Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit der Leistungen, das Recht auf unabhängige Beratung und den verbesserten Zugang zu vorgelagerten Leistungssystemen für Menschen mit Behinderungen an. Es gilt, die Teilhabe am Arbeitsleben mit Nachdruck zu verbessern. Das SGB IX als trägerübergreifendes Recht für alle Rehabilitationsträger ist zu stärken und „mit Zähnen zu versehen“. Der SoVD befürwortet die Herauslösung der bisherigen Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgerecht des SGB XII und seine Verankerung im SGB IX; Rechtsansprüche auf individuell bedarfsdeckende Leistungen sind auch zukünftig sicherzustellen und das Prinzip der Individualisierung von Leistungen sowie der offene Leistungskatalog im neuen Recht zwingend zu erhalten. Das Bundesteilhabegesetz muss dazu beitragen, die Wahl- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderungen zu stärken und zu erweitern.
Unter diesen Prämissen wird der SoVD die Reform der bisherigen Eingliederungshilfe bzw. die Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes weiter engagiert begleiten. Er knüpft vorliegend an eigene Stellungnahmen (s. o.) sowie verbändeübergreifende Positionierungen im Deutschen Behindertenrat an.4
2. SoVD-Positionen zu einzelnen Themenbereichen
2.1 Leistungsberechtigten Personenkreis nicht einschränken
Der SoVD unterstützt die Verankerung des – erweiterten – Behinderungsbegriffs gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention im deutschen Recht. Danach zählen zu den Menschen mit Behinderungen Menschen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“. Gleichwohl können in leistungsrechtlichen Kontexten, z. B. im Schwerbehindertenrecht, weiterhin Modifizierungen des anspruchsberechtigten Personenkreises notwendig bleiben.
Die vom BMAS beabsichtigte Zweistufigkeit beim Zugang zu den Teilhabeleistungen nach dem Bundesteilhabegesetz kann der SoVD unter der Prämisse mittragen, dass als Kriterium die „Notwendigkeit an Unterstützung in personeller, technischer und tierischer Hinsicht gemäß sämtlicher Lebensbereiche der ICF“ gilt; eine Abstufung nach „Lebensbereichen 1. und 2. Klasse“ ist abzulehnen. Der berechtigte Personenkreis muss einen Rechtsanspruch auf die Leistungen der Teilhabe erhalten.
Überdies sind für Personen, welche die o. g. Voraussetzungen nicht erfüllen, die Teilhabeleistungen weiterhin als Ermessensleistung vorzusehen, wie dies § 53 Abs. 1, Satz 2 SGB XII schon heute normiert. Denn der rehabilitative Ansatz von Teilhabeleistungen, ihr Focus auf volle und wirksame Teilhabe muss gerade auch für Menschen mit drohenden Teilhabeeinschränkungen möglich bleiben.
2.2 Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit der Leistungen ermöglichen
Die Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit von Leistungen der bisherigen Eingliederungshilfe stellt für den SoVD ein „Herz- und Kernstück“ der Reform dar. Der SoVD befürwortet, die bisherige Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herauszuführen und auf die Heranziehung von Einkommen und Vermögen sowie die Inanspruchnahme von Unterhaltspflichtigen vollständig zu verzichten. Das bisherige Recht führt dazu, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung Armutslagen kaum überwinden können: Sie müssen selbst erarbeitetes Einkommen weitgehend für behinderungsbedingte Unterstützungsleistungen einsetzen und können kaum Vermögen ansparen.
Der vollständige Verzicht auf die Einkommens- und Vermögensanrechnung führt zu Mehrkosten von maximal 580 Mio. € jährlich,5 wobei Kostenersparnisse (z. B. reduzierte Verwaltungskosten durch Wegfall umfangreicher Einkommens- und Vermögensprüfungen) dabei noch nicht berücksichtigt sind. Diese Mehrkosten sind zwar erheblich, erscheinen jedoch als politisch vertretbare Größenordnung, gerade wenn man die erheblichen Belastungen der Betroffenen gegenüberstellt. Letztere sind verpflichtet, ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse regelmäßig vollständig offenzulegen. Sie leben oft am Rande der Armut und können nur max. 2.600 € ansparen; die Bildung von Rücklagen, z. B. zur Altersvorsorge oder Ausbildung der Kinder, ist kaum möglich. Die Anrechnung von Partnereinkommen und -vermögen verhindert häufig, dass Menschen mit Behinderungen dauerhafte Partnerschaften/Ehen eingehen oder mit einer anderen Person zusammenziehen. Auch für die Arbeitsaufnahme werden Negativanreize gesetzt: Leistung und hohes Einkommen „lohnen nicht“, da dieses gleich wieder für behinderungsbedingte Unterstützungsleistungen eingesetzt werden muss.
Die bisherige Eingliederungshilfe ist auch deshalb aus der Fürsorge herauszuführen und einkommens- und vermögensunabhängig zu erbringen, da deren Grundidee nicht (mehr) passgerecht ist: Leistungen der Eingliederungshilfe knüpfen nicht subsidiär an vorübergehende Notlagen an, sondern gleichen – oft ein Leben lang – behinderungsbedingte Nachteile aus und sollen Teilhabe und Selbstbestimmung sichern. Die Einkommens- und Vermögensanrechnung konterkariert diese Ziele, da sich die Betroffenen selbstbestimmte Teilhabe dadurch nur sehr eingeschränkt „leisten können“.Die Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit ist für den SoVD eine zentrale politische Forderung. Im Gegenzug wäre der SoVD auch bereit, die – dafür erforderliche – Trennung der Fachleistungen von den existenzsichernden Leistungen mitzutragen. Mit Blick auf die mit der Trennung einhergehenden Abgrenzungsfragen ist jedoch sicherzustellen, dass keine Leistungslücken zulasten der Menschen mit Behinderungen entstehen. Wird festgestellt, dass hinsichtlich existenzsichernder Leistungen behinderungsbedingte Mehraufwendungen (z. B. höhere Kosten für Unterkunft) und Unterstützung für die Betroffenen erforderlich sind, so müssen diese den Fachleistungen – und damit dem offenen Leistungskatalog – unterfallen.
Erwägungen, anstelle der Einkommens- und Vermögensabhängigkeit die Betroffenen durch gestaffelte Selbstbeteiligungsbeiträge an den Kosten zu beteiligen, sieht der SoVD vor dem Hintergrund o. g. Erwägungen ebenfalls kritisch.
2.3 SGB IX als trägerübergreifendes, verbindliches Recht der Teilhabe stärken
Der SoVD fordert, anstelle der bisherigen Eingliederungshilfe ein modernes Teilhaberecht zu schaffen, das einen breiten rehabilitativen und teilhabeorientierten Ansatz hat und das mit dem Anspruch, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen, im SGB IX verankert wird. Die grundlegenden Prinzipien der Bedarfsdeckung und der Individualisierung der Leistungen dürfen dabei nicht in Frage gestellt werden.
Zugleich muss, im Interesse aller Menschen mit Behinderungen, das Bundesteilhabegesetz zu einer Stärkung des SGB IX – als trägerübergreifendes Verfahrensrecht – insgesamt führen.
Regelungen zur trägerübergreifenden Bedarfsermittlung, verbindlichen Teilhabeplanung und möglichst einheitlichen Bescheiderteilung bei trägerübergreifenden Leistungen sind innerhalb des SGB IX, 1. Teil (Regelungen zur Kooperation, Koordination, Zuständigkeitsklärung und Begutachtung, §§ 10 ff. SGB IX) zu treffen. Diese Verpflichtungen des SGB IX sind für alle Rehabilitationsträger „anzuschärfen“. Die Debatte für ein bundesweit einheitliches, partizipatives Bedarfsermittlungs- und -feststellungsverfahren für Leistungen der Teilhabe muss darin eingebunden werden. Der SoVD befürwortet, das Verfahrensrecht nach SGB IX zu präzisieren, für sämtliche Träger mit verbindlichen Kooperationspflichten und Fristen zu unterlegen und deren Einhaltung durch verbindliche Rechtsfolgen (Strafzahlungen, Genehmigungsfiktionen, Ansprüche auf Erstattung von Verwaltungsaufwendungen) sicherzustellen. Auch Begutachtungen sollten einheitlicher als bisher erfolgen, um belastende Mehrfachbegutachtungen zu reduzieren.
Ein neues, gesondertes Verfahrensrecht für den Eingliederungshilfeträger-neu sieht der SoVD daher sehr kritisch; insbesondere die diskutierte vorrangige Gesamtsteuerungsverantwortung des Eingliederungshilfeträgers-neu lehnt der SoVD mit Nachdruck ab, da dies eine erhebliche Schwächung des SGB IX bedeuten würde. Stattdessen müssen Verfahrensregelungen für alle Rehabilitationsträger einheitlich, verbindlich und wirksam gestaltet werden.
Um das SGB IX zu einem wirklichen Vorranggesetz für Teilhabe und Rehabilitation weiterzuentwickeln, dürfen Abweichungen in den Leistungsgesetzen überdies nicht länger die Regel, sondern müssen die Ausnahme sein; entsprechend muss § 7 SGB IX deutlich enger als bisher gefasst werden.
Zudem sollte die Pflegeversicherung als Rehabilitationsträger ins SGB IX aufgenommen werden, wobei jedoch zu gewährleisten ist, dass Rehabilitationsleistungen nicht als Teilleistung ausgestaltet und für diese eine Vollkostenfinanzierung festgeschrieben werden.
2.4 Recht auf unabhängige Beratung verankern
Die Reform der bisherigen Eingliederungshilfe hat das erklärte Ziel, die Personenzentrierung zu stärken. Dafür ist das Recht auf unabhängige Beratung essentiell. Denn Beratung ermöglicht eine Beteiligung auf Augenhöhe: Nicht nur im beabsichtigten partizipativen Bedarfsermittlungs- und feststellungsverfahren, sondern auch für die personenzentrierte Leistungsgestaltung wird unabhängige Beratung von zentraler Bedeutung sein.
Unabhängige Beratung darf die – davon unabhängig zu optimierende – Beratung durch Rehabilitationsträger und Gemeinsame Servicestellen, nicht ersetzen, sondern soll diese ergänzen. Der SoVD fordert einen gesetzlich verankerten individuellen Rechtsanspruch auf eine solche – von Leistungsträgerschaft und Leistungserbringung – unabhängige Beratung. Es ist zu gewährleisten, dass die Betroffenen ihren Beratungsanspruch wohnortnah und barrierefrei einlösen können und insoweit ein flächendeckendes Angebot bereitsteht. Dafür wird der kombinierte Weg aus institutioneller Förderung von Beratungsstellen (Angebotsmodell) einerseits und Beratung durch vorhandene Stellen mit der Möglichkeit der Abrechnung gegenüber den Reha-Trägern (Gutschein- bzw. Nachfragemodell) andererseits präferiert.
Für die unabhängige Beratung sollten, sofern diese nicht durch bereits anerkannte Rechtsberatungsstellen erfolgt, verbindliche Qualitätskriterien normiert werden, um Qualität zugunsten der zu beratenden Person sicherzustellen.
2.5 Verbesserte Teilhabe am Arbeitsleben
Der SoVD setzt sich nachdrücklich für eine verbesserte Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben insgesamt ein. Das Bundesteilhabegesetz darf seinen Focus daher nicht nur auf Menschen mit Behinderungen in Werkstätten richten. Stattdessen muss der allgemeine Arbeitsmarkt vorrangig in den Blick rücken; dort vorhandene Instrumente müssen gestärkt und ausgebaut werden. Ziel muss es sein, zugunsten schwer-/behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Beschäftigungsverhältnisse zu ermöglichen und zu sichern, Arbeitslosigkeit und Erwerbsminderung zu vermeiden und den Zugang zu Rehabilitation deutlich zu verbessern. Bedarfsdeckende Unterstützungsleistungen und Fördermöglichkeiten (z. B. nach SGB III, durch Integrationsfachdienste, Arbeitsassistenz u. a.) sowie Barrierefreiheit am Arbeitsplatz sind sicherzustellen bzw. auszuweiten.
Überdies müssen Unternehmen nachdrücklicher aufgefordert und darin unterstützt werden, ihrer gesetzlichen Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen stärker als bisher nachzukommen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Unternehmen die Beschäftigungsquote von 5 % seit Jahren nicht erfüllen (2014: 4,6%; private Unternehmen nur 4,1%) und 37.000 Unternehmen sogar keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Zugleich besteht seit Jahren eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit unter schwerbehinderten Menschen (2013: 14 %). Der SoVD fordert hier ein entschiedenes politisches Umsteuern. Ein inklusiver Arbeitsmarkt, der Ausbildungs- und Beschäftigungsoptionen für schwer-/behinderte Menschen eröffnet und sichert, muss zugleich auch Alternativen für Menschen, die bisher vorrangig in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) arbeiten, ermöglichen.
Der SoVD befürwortet daher die Schaffung eines Budgets für Arbeit für werkstattberechtigte Personen. Dieses muss dauerhaft bedarfsdeckend ausgestaltet sein und einen Lohnkostenzuschuss ebenso beinhalten wie begleitende Unterstützung und Assistenz. Überdies sollte ein Rückkehrrecht in die WfbM rechtlich garantiert werden, um den Betroffenen die Entscheidung für ein Budget für Arbeit zu erleichtern.
Mit dem gleichen Ziel befürwortet der SoVD den Ausbau von Integrationsunternehmen. Diese sind nicht nur aus Mitteln der Ausgleichsabgabe, sondern auch dauerhaft aus regulären Haushaltsmitteln nach SGB II und III zu finanzieren. Eine verbesserte Berufsorientierung kann überdies jungen Menschen mit Behinderungen Alternativen zur Werkstatt aufzeigen; die Länder stehen in der Verantwortung, eine anteilige Finanzierung dieser Angebote dauerhaft sicherzustellen.
Mit Sorge sieht der SoVD die vom BMAS befürworteten sog. anderen Leistungsanbieter, die künftig neben der WfbM Leistungen zur beruflichen Bildung oder zur Beschäftigung anbieten. Diese sollen nicht verpflichtet sein, eigene Arbeitsplätze vorzuhalten, so dass auch Leiharbeitskonstellationen eröffnet würden. Überdies ist bislang unklar, ob und ggf. nach welchen Kriterien die anderen Anbieter behinderte Menschen auswählen bzw. kündigen können und nach welchen Parametern das Arbeitsentgelt für die Menschen mit Behinderungen dort bemessen wird. Es besteht zudem die Gefahr, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen der anderen Leistungsanbieter dazu führen, einen unübersichtlichen, zunehmend kurzfristig und in Teilleistungen agierenden Angebotsmarkt zu schaffen. Dieser böte wenig Verlässlichkeit für die behinderten Menschen, könnte unsicherer, befristeter und prekärer Beschäftigung des beim "anderen Anbieter" beschäftigten Personals Vorschub leisten und den Preisdruck zulasten von Qualität und Verlässlichkeit der Angebote vorantreiben. Es bedarf für die anderen Leistungsanbieter in jedem Fall bundesweit einheitlicher Qualitätsanforderungen sowie deren Umsetzungsüberprüfung. Am individuellen Unterstützungsbedarf des einzelnen ausgerichtete begleitende Leistungen, Betreuung und Assistenz sind dort ebenso sicherzustellen wie umfassende Barrierefreiheit. Der Nachteilsausgleich der gesetzlichen Rentenversicherung ist im vollen Umfang wie in der WfbM zu gewähren und ein dauerhaftes Rückkehrrecht dorthin zugunsten der Betroffenen zu garantieren. In ihrem Interesse sind auch ihre Rechtsstellung und Mitwirkungsrechte beim anderen Anbieter entsprechend den Regelungen in der WfbM auszugestalten.
Zugleich unterstreicht der SoVD, dass die Reform nicht zulasten der heutigen Werkstattbeschäftigten gehen darf. Er verweist insbesondere auf deren geringen Arbeitsentgelte und wendet sich erneut entschieden gegen jegliche Überlegungen, den rentenrechtlichen Nachteilsausgleich für Werkstattbeschäftigte zu verschlechtern oder gar abzuschaffen.
Überdies darf der Anspruch auf Werkstattaufnahme weder verengt noch die rehabilitative Ausrichtung der WfbM in Frage gestellt werden. Diese Gefahr sieht der SoVD, wenn der Aufnahmeanspruch zukünftig an die (dauerhaft) volle Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI gebunden wird. Damit würden vorübergehende Fallgestaltungen ausgeschlossen; insbesondere Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, bei denen eine dauerhaft volle Erwerbsminderung noch nicht prognostiziert werden kann, hätten keinen Aufnahmeanspruch mehr. Die bewährten Aufnahmekriterien des § 136 SGB IX (Möglichkeit der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt „nicht, noch nicht oder noch nicht wieder“) sind zu erhalten. Zudem ist die rehabilitative Ausrichtung der Werkstattangebote, die auf Erhalt der Leistungs- und Erwerbsfähigkeit sowie die Persönlichkeitsentwicklung der behinderten Menschen abzielen, fortzuführen. Noch deutlich stärker müssen die Angebote der WfbM auf die Eingliederung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ausgerichtet werden.
2.6 Recht der sozialen Teilhabe stärken
Das Bundesteilhabegesetz muss dazu beitragen, Leistungen der sozialen Teilhabe – neben den Bereichen der medizinischen Rehabilitation und der beruflichen Teilhabe – zu stärken. Denn auch Menschen mit Behinderungen haben das Recht, selbstbestimmt ihr Wohnen und ihr soziales Leben (Freunde treffen, Eltern sein, sich ehrenamtlich oder politisch engagieren, Kultur erleben, Freizeit gestalten, Sport treiben usw.) zu gestalten. In der Praxis bestehen erhebliche Defizite, wenn es um Unterstützungsleistungen, einschließlich Assistenz, in diesen Bereichen geht.
Leistungen der sozialen Teilhabe dürfen auch künftig nicht abschließend definiert und insoweit verengt werden. Es braucht einen offenen Leistungskatalog, der den breiten rehabilitations- und teilhabeorientierten Ansatz des bisherigen Eingliederungshilferechts (§§ 53, 55 SGB XII, § 26 SGB IX) fortschreibt. Leistungen der sozialen Teilhabe dürfen auch dann nicht ausgeschlossen werden, wenn sie zugleich als Leistungen der medizinischen Rehabilitation oder der beruflichen Teilhabe in Betracht kommen; entscheidend für die Zuordnung muss das zu erreichende Ziel der Leistung bleiben.
Eine exemplarische Aufzählung der umfassten Leistungsbereiche der sozialen Teilhabe (Leistungen für Wohnraum, heilpädagogische Leistungen, Leistungen zum Erwerb und Erhalt lebenspraktischer Fähigkeiten, Leistungen zur Förderung der Verständigung, Leistungen zur Mobilität, Hilfsmittel, Besuchsbeihilfen u. a.) wird mitgetragen, darf jedoch nicht im Sinne eines abschließenden Katalogs ausgestaltet sein; keine der bisherigen Leistungen dürfen ausgespart werden. Überdies fordert der SoVD ausdrücklich, dass Leistungen der schulischen Bildung, einschließlich Hochschulbildung, auf keinen Fall als soziale Teilhabeleistungen ausgeschlossen werden dürfen, solange kein individueller Leistungsanspruch gegenüber anderen Trägern gewährleistet ist. Durch bloßes Ausklammern aus der sozialen Teilhabe darf die Problematik der Schulassistenz nicht gelöst werden, denn dies ginge zulasten behinderter Schülerinnen und Schüler.
Der SoVD befürwortet eine gesetzliche Grundlage für persönliche Unterstützungsleistungen; Assistenz sollte als eine besondere Leistungsform dieser Unterstützungsleistungen ebenfalls verankert werden. Eine abstrakte Unterscheidung zwischen qualifizierter Assistenz (Anleitung/Schulung) und einfacher Assistenz (einfache Handreichungen) bereits im gesetzlichen Leistungsrecht lehnt der SoVD ab. Stattdessen ist im individuellen Einzelfall zu ermitteln, welche konkreten persönlichen Unterstützungsleistungen zur Sicherung der Teilhabe erforderlich sind und ob bzw. in welchem Umfang ggf. die Leistungsform der Assistenz in Betracht kommt.
Eine klare Absage erteilt der SoVD dem „Poolen“ von Leistungen ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen. Die Leistungserbringung darf nicht darvon abhängig gemacht werden, dass Leistungen gemeinschaftlich (gepoolt) in Anspruch genommen werden. Wer Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen stärken will, darf die Leistungsgewährung nicht auf gepoolte Leistungen verengen. Ansonsten könnten sich Menschen mit Behinderungen z. B. in gemeinschaftliche Wohnformen gezwungen werden und der Grundsatz „ambulant vor stationär“ würde ausgehöhlt. Poolen ist allenfalls auf ausdrücklichen Wunsch des Menschen mit Behinderung denkbar; da es sonst im klaren Widerspruch zur Personenzentrierung, einem erklärten Reformziel, stünde.
Pauschalierte Geldleistungen sieht der SoVD im Spannungsfeld zum wichtigen Prinzip individueller Bedarfsdeckung. Daher sollten pauschalierten Leistungen für einzelne wiederkehrende Leistungen allenfalls auf ausdrücklichen Wunsch des Menschen mit Behinderung gewährt und diese auch wieder in individualisiert bedarfsdeckende Leistungen umgewandelt werden können.
2.7 Inklusive Bildung voranbringen – nicht aber auf dem Rücken der Menschen mit Behinderungen
Der SoVD würde es sehr begrüßen, wenn die Entwicklung inklusiver Bildung, insbesondere im schulischen Bereich, deutlich an Dynamik und Qualität gewinnen würde. Denn das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen, wie es Art. 24 BRK verpflichtend fordert, ist in Deutschland keineswegs in der erforderlichen Qualität umgesetzt und fordert weiterhin große Anstrengungen.
Der SoVD fordert, endlich eine qualitätsgeleitete Debatte um inklusive Bildung zu führen, die den Focus auf pädagogische Kompetenzen, Qualifikationen und Anforderungen an das Personal, schulische Rahmenbedingungen, Barrierefreiheit u. a. richtet. Hier ist der Bund in der Pflicht, bundesweite Qualitätsstandards zu entwickeln. Dies umfasst in ganz besonderem Maße auch qualitativen Anforderungen an Schulassistenz, die als Leistung der bisherigen Eingliederungshilfe erbracht werden. Der Bundesgesetzgeber ist in der Verantwortung, diese qualitative Debatte um inklusive Bildung zu stärken und dies mit dem Bundesteilhabegesetz zu forcieren. Eine Diskussion allein um veränderte Trägerzuständigkeiten (Eingliederungshilfe/Jugendhilfe/Kultusverwaltung) in Bezug auf Schulassistenz griffe deutlich zu kurz und ist daher abzulehnen.
Eine vorschnelle Zuständigkeitsübertragung auf die Kultusverwaltungen der Länder würde gar die Gefahr begründen, dass bestehende qualitative Defizite der inklusiven Bildung noch verstärkt und Rechte der Betroffenen beschnitten werden, wenn ihr individueller Rechtsanspruch auf Hilfen zur angemessenen Schulbildung (bisher: § 54 SGB XII) nicht in den Schulgesetzen verankert wird.
Für den Bereich Hochschule befürwortet der SoVD, die bisher in § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB XII verankerten „Hilfen zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich Hochschulbesuch“ den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gem. § 33 SGB IX zuzuordnen. Zugleich sind Rechtsansprüche auf diese Leistungen im jeweiligen Teil des Sozialgesetzbuches der für die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zuständigen Rehabilitationsträger, insbesondere im SGB III, zu verankern. Denn immer mehr junge Menschen wählen zur beruflichen Qualifikation ein Hochschulstudium oder gehen den Weg des dualen Studiums. Diese unterschiedlichen Wege beruflicher Qualifikationen sollten rechtlich gleich behandelt und als gleichermaßen wie duale Ausbildungen als Rehabilitationsmaßnahmen finanziert werden. Es ist zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen, die anstelle einer Ausbildung studieren wollen, nicht schlechter stehen. Die vorgeschlagene Aufgabenerweiterung für die Bundesagentur für Arbeit (§ 112 ff. SGB III) darf jedoch nicht ohne Sicherstellung entsprechender finanzieller Ressourcen durch den Bund erfolgen; hierfür ist Sorge zu tragen.
2.8 Zugang zu Sozialversicherungsleistungen nach SGB V und XI stärken
Gesetzlich Krankenversicherte haben rechtlich verbriefte Leistungsansprüche gegenüber ihrer Krankenversicherung nach SGB V. Auch Menschen mit Behinderungen sind Versicherte und die Krankenkassen ihnen gegenüber leistungsverpflichtet. Die gesetzliche Krankenversicherung steht daher in der Verantwortung, ihren Leistungsverpflichtungen, insbesondere im Hinblick auf häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V grundsätzlich auch dann nachkommen, wenn Menschen in (vollstationären) Einrichtungen der Behindertenhilfe ihr dauerhaftes Zuhause haben.
Hinsichtlich der Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung betont der SoVD, dass die Gleichrangigkeit von Pflege- und Eingliederungshilfeleistungengemäß § 13 Abs. 3 Satz 3 SGB XI aufrechterhalten werden muss; die Leistungen der bisherigen Eingliederungshilfe dürfen auch zukünftig nicht nachrangig werden, da die Leistungen unterschiedliche Zielsetzungen haben.
Überdies muss der Zugang zu ambulanten Pflegesachleistungen auch für behinderte Menschen möglich werden, die in (bisher stationären) Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben. Dies gilt umso mehr, als die Unterscheidung zwischen „ambulant“ und „stationär“ bei Leistungen der bisherigen Eingliederungshilfe zukünftig entfallen soll. Durch die bisherige Deckelungsregelung in § 43 a SGB XI werden berechtigte anwartschaftliche Ansprüche für pflegeversicherte Menschen mit Behinderungen aus ihrer Pflegeversicherung stark eingeschränkt. Dies bedarf dringend der Abhilfe. Die Mehrkosten sind der Pflegeversicherung aus Steuermitteln zu erstatten.
Nicht zuletzt vermisst der SoVD ein Gesamtkonzept hinsichtlich der Schnittstelle zwischen bisheriger Eingliederungshilfe und Pflege; durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff könnte sich die bereits bestehende Abgrenzungsproblematik weiter verschärfen. Insoweit begegnet es Kritik, dass die Reform der bisherigen Eingliederungshilfe nunmehr zeitlich abgekoppelt vom Pflegestärkungsgesetz II erfolgt; letzteres soll noch 2015 verabschiedet werden, während das Bundesteilhabegesetz voraussichtlich erst 2016 beschlossen wird.
2.9 Leistungserbringungs-/Vertragsrecht im Interesse der Menschen mit Behinderungen gestalten
Mit dem Bundesteilhabegesetz wird auch das Leistungserbringungs- und Vertragsrecht weiterentwickelt. Änderungen sind daran zu messen, ob sie Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen bewirken, ihr Recht auf qualitätsgesicherte Angebote im Sinne der BRK gewährleistet und ihre Wunsch- und Wahlrechte ausgeweitet werden. Die Anwendung von Vergaberecht in diesem Rechtskreis lehnt der SoVD ab, denn damit werden Angebote nicht ausgeweitet, sondern auf die den Zuschlag erhaltenden Anbieter beschränkt. Die Berücksichtigung der Tarifbindung bei den Personalkosten sowie die Erbringungen von Leistungen aus einer Hand dienen einer qualitätsgesicherten Angebotserbringung und sind daher zu unterstützen.
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik
Stellungnahmne: Bundesteilhabegesetz (BTHG) [160 KB]
1 Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode von CDU, CSU und SPD, abrufbar unter:
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/koalitionsvertrag-inhaltsverzeichnis.html
2 Vgl. u. a. SoVD-Bewertung des Grundlagenpapiers
3 Vgl. Mitteilung der Welt am 15.9.2015, abrufbar unter:
http://www.welt.de/politik/deutschland/article146413630/Schaeuble-plant-Mini-Sparpaket-wegen-Fluechtlingskrise.html
4 Ausführliche Positionierungen aller DBR-Verbände zu einzelnen Themenstellungen im Kontext Bundesteilha-begesetz finden sich im Internet unter: www.deutscher-behindertenrat.de/ID263725 Vgl. Arbeitspapier des BMAS zu TOP 1+4 der 8. Sitzung der AG BTHG am 12. März 2015