Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)
Stellungnahme des SoVD zum Referentenentwurf für ein Gesetz zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts
1. Große Leerstelle: Die Verpflichtung der Privatwirtschaft zu Barrierefreiheit bleibt weitgehend aus
Der SoVD sieht mit großer Kritik und Sorge, dass die Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit im Referentenentwurf (BGG-neu) vollkommen unzureichend geregelt bleibt. Das BGG-neu zielt vorrangig auf Träger öffentlicher Gewalt sowie Sozialleistungsträger und verpflichtet diese zu Barrierefreiheit. Private Rechtsträger sollen nur in sehr begrenztem Rahmen einbezogen werden: a) wenn an diesem ein Träger der öffentlichen Gewalt unmittelbar oder mittelbar ganz oder überwiegend beteiligt ist und b) wenn private Rechtsträger institutionelle Zuwendungen des Bundes erhalten. Dies ist vollkommen unzureichend, zumal sich aus o.g. Regelungen keine unmittelbaren – einklagbaren – Rechte und Pflichten für die Betroffenen ableiten sollen.
Der SoVD betont: Ohne eine breite Verpflichtung privater Anbieter von Gütern und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit geht das BGG-neu an derLebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen weitgehend vorbei. Sie stoßen im Alltag weiterhin auf Barrieren: bei Einkaufsmöglichkeiten und Internetangeboten, bei sozialen, Kultur-, Bildungs- und Sportangeboten, bei gastronomischen oder touristischen Angeboten, bei Geldinstituten, im Verkehrsbereich, im Gesundheitssektor u.v.a.m. Hier muss das BGG-neu spürbare Verbesserungen für die betroffenen Menschen schaffen und Barrierefreiheit (weit über die bauliche Perspektive hinaus) sichern. Bislang bleibt der Gesetzentwurf hier mutlos – selbst neuen Barrieren in der Privatwirtschaft setzt er nichts entgegen. Dies ist in einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die die Idee der Inklusion, Teilhabe und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen umsetzen will, nicht hinnehmbar.
Die weitgehende Ausklammerung privater Unternehmen aus dem BGG verstößt gegen die Abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschusses vom 17.4.15 (CRPD/C/DEU(CO/1). Darin wird in Nr. 21 und 22 für Deutschland die bindende Verpflichtung für private Unternehmen zur Barrierefreiheit unmissverständlich benannt. Auch verweist der SoVD auf den General Comment des UN-Fachausschusses zur Behindertenrechtskonvention (BRK) vom 22.5.14 (CRPD/C/GC/2), der eine Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Anbietern von Gütern und Dienstleistungen bei der Herstellung von Barrierefreiheit ausdrücklich ablehnt. Dem muss das BGG-neu Rechnung tragen. Einer gestuften, vertretbaren Umsetzung für die Privatwirtschaft verschließt sich der SoVD dabei nicht: Ein entsprechendes Konzept, das dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt, hat der SoVD, gemeinsam mit weiteren Verbänden des Deutschen Behindertenrates, vorgelegt.[1] Es muss Barrierefreiheit endlich für private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen verbindlich normiert werden, wie dies bereits bei Schaffung des BGG 2002 gefordert wurde.
2. Weitere „Leerstellen“ des Referentenentwurfes
Das BGG-neu gilt als ein zentrales Vorhaben zur Umsetzung der BRK (vgl. u.a. Arbeitsentwurf zum Nationalen Aktionsplan 2.0, S. 97). Doch der Referentenentwurf nimmt auf Ziele und Vorgaben der BRK kaum Bezug und lässt auch den General Comment Nr. 2 des UN-Fachausschusses zur Barrierefreiheit (s.o.) unerwähnt. Das BGG-neu sollte als Ziel die Verpflichtung des Staates benennen, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten und damit einen Maßstab zur Umsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtungen normieren. Regelungen auf Länderebene tun dies bereits[2], der Bund sollte daran anschließen.
Der SoVD sieht überdies kritisch, dass es an einer Verankerung des Disability Mainstreaming fehlt, um Barrierefreiheit und Diskriminierungsschutz in allen politischen Ressorts systematisch umzusetzen und die Belange behinderter Menschen bei allen Vorhaben konsequent mit zu prüfen. Beispiele aus den Bundesländern[3] zeigen, dass dies möglich ist; daher sollte der Bund nachziehen und diesen Grundsatz verankern.
Bestimmte Gruppen bleiben aus dem BGG-neu weitgehend ausgeklammert. Dies betrifft insbesondere die große Gruppe der psychisch und seelisch beeinträchtigten Menschen, aber auch taubblinde Menschen. Überdies werden die Belange von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend berücksichtigt. Diese sollten, wie Frauen mit Behinderungen, explizit benannt werden, allerdings in einem eigenen Paragraphen.
Ein wichtiges Ergebnis der BGG-Evaluierung betraf seine unzureichende Verankerung in den Verwaltungsstrukturen. Vorgeschlagen wurden daher verbindliche Ansprechpartner und Verantwortlichkeiten zur Umsetzung des BGG in der Verwaltung sowie zum Umgang mit Bürgerbeschwerden. Diese Vorschläge greift das BGG-neu leider nicht auf.
Überdies müssen zahlreiche weitere Fachgesetze, die mit Inkrafttreten des BGG geändert wurden (z.B. im Verkehrsbereich), dringend überarbeitet werden. Es ist zu begrüßen, dass laut Arbeitsentwurf zum Nationalen Aktionsplan 2.0 die Evaluationen 2016/17 beabsichtigt sind. Eine parallele Überarbeitung auch des Antidiskriminierungsrechts, um einen bessere Verzahnung von BGG und AGG zu erreichen, fehlt jedoch weiterhin, was der SoVD kritisch sieht.
3. Zu den beabsichtigten Einzelregelungen im BGG-neu - Art. 1
a. § 1 BGG Gesetzesziel
Es ist unklar, unter welcher Überschrift § 1 neu gefasst werden soll. Die sog. Klartextfassung spricht von „Ziel und Geltungsbereich“, der Referentenentwurf hingegen von „ Ziel und Verantwortung der Träger öffentlicher Gewalt“. Der SoVD unterstützt die letztere Formulierung, da sie die Regelungsintention des BGG-neu deutlicher zum Ausdruck bringt.
Der SoVD kritisiert, dass die Privatwirtschaft durch die Neuregelung des § 1 Abs. 3 BGG nur in sehr geringem Umfang zu Barrierefreiheit verpflichtet wird. Darin sieht er eine ganz erhebliche Leerstelle des Referentenentwurfes (s.o.).
Ein positives Signal ist, dass nunmehr auch (private) Zuwendungsempfänger zu Barrierefreiheit verpflichtet werden. Jedoch greift die Regelung in § 1 Abs. 3 S. 2 BGG nicht für sämtliche Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt, sondern nur für solche, die als institutionelle Zuwendungen geleistet werden. Der SoVD befürwortet eine Ausweitung auf sämtliche Zuwendungsempfänger, verbunden mit einer Fördersummenuntergrenze, um bei geringen Bundeszuwendungen die Verhältnismäßigkeit zu wahren.
Überdies erscheint die konkrete Ausgestaltung von § 1 Abs. 3 S.1 und 2 BGG-neu wenig durchsetzungsstark: sie ist nur eine „Soll“-Vorschrift und enthält zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe, z. B. „hinwirken“, „Ziele berücksichtigen“ „Grundzüge des Gesetzes anwenden“. Kritisch würdigt der SoVD auch, dass die Umsetzung der Regelungen in § 1 Abs. 3 BGG-neu für die Privatwirtschaft einer gerichtlichen Prüfung entzogen bleibt. Denn diese Norm fehlt bei der enumerativen Aufzählung zu gerichtlichen Klagemöglichkeiten. Damit fehlt es an Durchsetzungsmechanismen für die ohnehin eingeschränkte Verpflichtung privater Akteure zur Barrierefreiheit.
Positiv ist, dass Beliehene und sonstige Bundesorgane, soweit sie öffentlich-rechtliche Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, in das BGG-neu (§ 1 Abs. 2 S. 1) einbezogen werden. Jedoch bleibt offen, ob damit bestehende Probleme umfassend gelöst werden, das heißt, ob z. B. der Bundesanzeigerverlag oder Normungsinstitute des DIN, die Gesetze oder Normen zur Barrierefreiheit veröffentlichen, mit umfasst würden.
b. § 2 BGG Frauen mit Behinderungen, Mehrdimensionalität
Begrüßt wird, dass Frauen mit Behinderungen als besonders vulnerabler Personenkreis vom BGG ausdrücklich benannt werden und auch die Benachteiligung wegen mehrerer Gründe in § 2 BGG-neu berücksichtigt wird. Jedoch fehlt es an exemplarisch konkretisierenden Vorgaben, welche „Maßnahmen zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung“ ergriffen werden sollten (z. B. barrierefreie Hilfeangebote für Gewaltopfer). Ohne solche Konkretisierungen steht zu befürchten, dass das Recht auch zukünftig wenig angewandt wird und damit nicht zur tatsächliche Verbesserung der Situation von Frauen mit Behinderungen führt.
c. § 3 BGG Behinderungsbegriff
Das BMAS plant, den Behinderungsbegriff den Vorgaben der UN-BRK anzupassen. Nach § 3 BGG-neu sind Menschen mit Behinderungen solche, die „langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Als langfristig gilt ein Zeitraum, der mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert.“
Die Neufassung ist sehr zu unterstützen, da damit das veränderte Verständnis von Behinderung gemäß der BRK im deutschen Recht verankert wird: Nicht allein die individuelle Beeinträchtigung, sondern vor allem die behindernden umwelt- und einstellungsbedingten Faktoren rücken in den Focus. Es ist Aufgabe des BGG, diese behindernden Faktoren anzugehen und Barrierefreiheit konsequent herzustellen.
Jedoch sollte die Dimension der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft in § 3 BGG-neu ergänzt werden um die Dimension der „vollen und wirksamen Teilhabe“. In der Gesetzesbegründung findet sich der Passus der „vollen und wirksamen Teilhabe“ bereits, daher ist die Ergänzung folgerichtig. Sie ist auch politisch richtig, denn die "volle und wirksame" Teilhabe fokussiert auf das menschenrechtliche Verständnis von Behinderung und den Leitgedanken der BRK und macht deutlich, dass es nicht nur um formaljuristische, sondern um tatsächliche Gleichstellung und gleiche Teilhabechancen für Menschen mit Behinderungen geht.
d. § 4 BGG Barrierefreiheit
Es ist beabsichtigt, das umfassende, weite Verständnis von Barrierefreiheit fortzuschreiben, jedoch ergänzt um die Dimension der „Auffindbarkeit“. Dies ist zu begrüßen.
Zudem sollte explizit die Mitnahme von Hilfsmitteln als Dimension einer barrierefreien Nutzung aufgenommen werden, wie dies in einigen Landesgesetzen bereits verankert ist.[4] Erfahrungen zeigen, dass in der Praxis immer wieder Probleme auftauchen: so z.B. bei der Mitnahme von Assistenz- oder Blindenführhunden oder auch bei Rollstühlen sowie bei E-Scootern, die aktuell im Verkehrsbereich sehr kritisch diskutiert werden. Dies zeigt, dass die Mitnahme einiger „besonderer“ Hilfsmittel noch immer keine Selbstverständlichkeit und Anlass von Diskussionen und Zutrittsverweigerungen ist. Dem kann eine Klarstellung im BGG-neu entgegenwirken.
Folgende Formulierung wird konkret vorgeschlagen: "Eine besondere Erschwernis liegt auch dann vor, wenn Menschen mit Behinderungen die Mitnahme oder der Einsatz benötigter Hilfsmittel, einschließlich tierischer Assistenz, verweigert oder erschwert wird.“
e. § 5 BGG Zielvereinbarungen
Das Instrument der Zielvereinbarung nach § 5 BGG-neu soll im Wesentlichen unverändert fortgeschrieben werden; beabsichtigte Änderungen sind nicht materiell-rechtlicher Art.
Der SoVD hat in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, dass Vereinbarungen zwischen der Wirtschaft und Behindertenverbänden zur Barrierefreiheit kein taugliches Instrument sind, um strukturell systematisch für flächendeckende Barrierefreiheit zu sorgen. Die geringe Zahl der abgeschlossenen Zielvereinbarungen machen deutlich, dass es sich hier um ein „wenig scharfes Schwert“ handelt: Verhandlungen dauern lange, Inhalte können nicht erzwungen werden, Barrierefreiheit bleibt allenfalls bei gutem Willen der Unternehmen umsetzbar. Daher betont der SoVD erneut: Zielvereinbarungen können eine gesetzliche Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit (s.o.) nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen.
f. § 6 BGG Gebärdensprache und Kommunikation von Menschen mit Hör- und Sprachbehinderungen
Die Regelungen zu Gebärdensprache, lautsprachbegleitendem Gebärden und anderen Kommunikationshilfen bleiben im BGG-neu verankert. Dies ist positiv zu bewerten. Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass derzeit der Erarbeitungsprozess für das Merkzeichen „Taubblind“ läuft. Daher ist es sachgerecht und erforderlich, diese Personengruppe bereits jetzt in § 6 BGG-neu zu berücksichtigen.
Fraglich bleibt, ob Menschen mit psychischen Erkrankungen, die ebenfalls einen Bedarf an besonderer Kommunikation haben können, von den Regelungen in § 6 BGG-neu erfasst werden, da diese Gruppe nicht ausdrücklich in der Norm aufgeführt wird. Eine entsprechende Ergänzung befürwortet der SoVD.
g. § 7 BGG Benachteiligungsverbot
Der SoVD begrüßt, dass das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen auf den Tatbestand der Belästigung ausgeweitet wird (§ 7 Abs. 1 Satz 2 BGG-neu). Dies wird den Schutz gerade für Frauen mit Behinderungen verbessern.
Zudem ist geplant, dass bei einem Verstoß gegen eine Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit das Vorliegen einer Benachteiligung widerleglich vermutet wird (§ 7 Abs. 1 Satz 3 BGG -neu). Auch diese Vermutungsregelung ist positiv zu bewerten, da sie für Menschen mit Behinderungen den Nachweis einer Benachteiligung wegen fehlender Barrierefreiheit erleichtert.
Auch würdigt der SoVD positiv, dass die „angemessenen Vorkehrungen“ in § 7 Abs. 2 BGG -neu ausdrücklich gesetzlich verankert und ihre Verweigerung als Benachteiligung anerkannt werden. Dies entspricht einer langjährigen Forderung des SoVD. Es muss jedoch auch sichergestellt sein, dass die Versagung angemessener Vorkehrungen als subjektiv einklagbares Recht ausgestaltet ist und im Wege der Verbandsklage gerügt werden kann; hier lässt zumindest die Gesetzesbegründung Zweifel, da an entsprechender Stelle nur auf § 7 Abs. 1 2 BGG-neu, nicht aber auf § 7 Abs. 2 BGG-neu (mithin auf die angemessenen Vorkehrungen) verwiesen wird. Eine Klarstellung in der Begründung wäre daher sehr begrüßenswert. Der SoVD unterstreicht die dringende Notwendigkeit, dass die Verweigerung angemessener Vorkehrungen sowohl im individuellen Klageweg, als auch im Weg der Verbandsklage gerichtlich überprüfbar und auch schlichtungsstellenfähig sein muss. Zudem wird angeregt, eine Vermutungsregelung analog § 7 Abs. 1 Satz 3 BGG-neu auch für § 7 Abs. 2 BGG-neu zu erwägen.
Erheblicher Kritik begegnet der Umstand, dass das Benachteiligungsverbot allein auf Träger der öffentlichen Gewalt (§ 1 Abs. 2 S. 1 BGG-neu) beschränkt wird. Damit gilt das Benachteiligungsverbot nicht für private Wirtschaftsakteure, auch werden sie nicht von der Pflicht erfasst, angemessene Vorkehrungen im Einzelfall zu treffen. Dies ist umso problematischer, als auch das Antidiskriminierungsgesetz (AGG) nicht entsprechend ergänzt wird. Nicht hinnehmbar ist es aus Sicht des SoVD, dass nicht einmal private Rechtsträger, an denen Träger öffentlicher Gewalt ganz oder überwiegend beteiligt sind (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BGG-neu), vom Benachteiligungsverbot erfasst werden sollen; ebenso wenig sollen Zuwendungsempfänger (§ 1 Abs. 3 BGG-neu) und Auslandsvertretungen nach § 1 Abs. 4 BGG-neu auf das Benachteiligungsverbot verpflichtet werden. Diese Leerstellen sind dringend zu beseitigen.
h. § 8 BGG Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr
Der SoVD begrüßt, dass Barrierefreiheit zukünftig nicht mehr nur bei großen zivilen Um- und Erweiterungsbauten des Bundes, mithin ab einer Investitionsgrenze von 2 Mio. Euro verpflichtend ist, sondern dass Barrierefreiheit künftig bei sämtlichen Neu-, Um- und Erweiterungsbauten im Eigentum des Bundes umgesetzt werden soll. Dies wird einen deutlichen Schub nach vorn im Bereich der Bestandsbauten bedingen. Positiv ist darüber hinaus, dass bei allen investiven Baumaßnahmen des Bundes zukünftig auch die nicht unmittelbar betroffenen Gebäudeteile auf Barrierefreiheit hin überprüft und Barrieren ggf. abgebaut werden sollen.
Mit großem Bedauern nimmt der SoVD zur Kenntnis, dass die ursprüngliche Umsetzungsfrist, nach der Bestandsbauten des Bundes bis 2026 verbindlich barrierefrei gestaltet werden sollten, wieder fallen gelassen wurde. Stattdessen enthält der Referentenentwurf nur noch eine Berichtspflicht zur Barrierefreiheit für 2021. Dies ist deutlich zu wenig. Wenn der Bundesgesetzgeber dem ÖPNV eine vollständige Barrierefreiheit bis 1. Januar 2022 abverlangt (§ 1 Abs. 3 PBefG), dürfen seine eigenen Verpflichtungen nicht dahinter zurückstehen. Der SoVD fordert daher mit Nachdruck eine verbindliche Umsetzungsfrist zur Barrierefreiheit für Bestandsbauten des Bundes. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die jetzt in § 8 Abs. 2 Satz 1 BGG-neu beabsichtigte Regelung zu Bestandsbauten erhebliche Ausnahmemöglichkeiten vorsieht (Soll-Regelung, Möglichkeit der Berücksichtigung baulicher Gegebenheiten, Vorbehalt bei unangemessener wirtschaftlicher Belastung) und weder verbandsklagefähig noch schlichtungsstellenfähig sein soll. Damit bliebe eine Überprüfung durch die Zivilgesellschaft ausgeschlossen. Auch kritisiert der SoVD, dass sich die geplante Prüf- und Veränderungspflicht bei Bestandsbauten des Bundes (§ 8 Abs. 2 BGG-neu) auf Gebäudeteile beschränken soll, die dem Publikumsverkehr dienen. Dies widerspricht dem notwendigen Ansatz vorausschauender Barrierefreiheit, wie er – zu Recht – im Leitfaden „Barrierefreies Bauen“ der Bundesregierung gewählt wurde. Barrierefreiheit im 21. Jahrhundert darf nicht auf bestimmte Gebäudeteile beschränkt werden, auch um zukünftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Beschäftigungsmöglichkeiten vorausschauend nicht zu erschweren. Zu Recht weist die Gesetzesbegründung darauf hin, dass sowohl in öffentlich zugänglichen als auch in nicht öffentlichen Arbeitsbereichen Barrierefreiheit umzusetzen ist. Im Sinne einer vorausschauenden Barrierefreiheit ist die Beschränkung in § 8 Abs. 2 BGG-neu auf Gebäudeteile mit Publikumsverkehr dringend aufzuheben.
Positiv bewertet der SoVD die Absicht, auch bei Mietobjekten des Bundes Barrierefreiheit zu beachten. Ergänzend ist anzumerken, dass andere Nutzungsformen – neben Eigentum (Abs. 1) und Miete (Abs. 3) z.B. Immobilienleasing – nicht ausgeklammert werden dürfen, wenn es um die Herstellung von Barrierefreiheit geht.
i. § 9 BGG Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und anderer Kommunikationsformen sowie § 10 Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken
Das Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationsformen soll weiterhin gewährleistet werden. Dies ist positiv. Allerdings wird derAnwendungsbereich dieses Rechts, ebenso wie des Rechts auf wahrnehmbare Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken, sehr eng gefasst. Er beschränkt sich auf Einrichtungen der unmittelbaren und mittelbaren Bundesverwaltung sowie auf Beliehene und sonstige Bundesorgane. Landesverwaltungen, die Bundesrecht ausführen, werden ebenso ausgeschlossen wie private Wirtschaftsakteure, an denen der Bund mehrheitlich beteiligt ist. Diese Einschränkung ist nicht nachvollziehbar und sollte revidiert werden.
Der SoVD weist noch auf folgendes hin: Die o. g. Ansprüche sind bislang „auf die Wahrnehmung eigener Rechte“ ausgerichtet. Dies darf nicht dazu führen, dass z. B. Menschen, die unter rechtlicher Betreuung stehen oder blinden Eltern, die für ihr Kind tätig werden, die o.g. Rechte und Ansprüche verwehrt werden. Dies sollte in der Gesetzesbegründung verdeutlicht werden.
Mit Bedauern sieht der SoVD überdies, dass der Belange taubblinder Menschen bislang nicht ausdrücklich in §§ 10,11 BGG-neu berücksichtigt werden.
j. § 11 BGG Verständlichkeit und Leichte Sprache
Der SoVD begrüßt ganz ausdrücklich, dass die Leichte Sprache im BGG-neu erstmals gesetzlich verankert wird. Ab 2018 sollen nicht nur allgemeine Informationen und Texte verstärkt in Leichte Sprache übersetzt werden, sondern es sollen auch Bescheide und Vordrucke in Leichter Sprache erläutert und darüber hinaus soll verstärkt in Leichter und einfacher Sprache kommuniziert werden. Damit wird den berechtigten Belangen von Menschen mit Lernbehinderungen und anderen kognitiven Beeinträchtigungen zukünftig deutlich besser Rechnung getragen. Leider erhalten die Betroffenen auch nach dem 1.1.2018 keinen Rechtsanspruch auf Erläuterung von Bescheiden in Leichter Sprache, sondern die Behörde soll darüber lediglich nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden.
Kritisch würdigt der SoVD auch hier den engen Anwendungsbereich der Norm: Landesverwaltungen, die Bundesrecht ausführen, werden ebenso wenig verpflichtet wie private Wirtschaftsakteure, an denen der Bund mehrheitlich beteiligt ist.
k. § 12 BGG Barrierefreie Informationstechnik
§ 12 BGG-neu regelt die Barrierefreiheit im Bereich Informationstechnik und knüpft weitgehend an das bisherige Recht an.
Die in der Sache richtigen und notwendigen Verpflichtungen beschränken sich jedoch auf Einrichtungen der unmittelbaren und mittelbaren Bundesverwaltung sowie auf Beliehene und sonstige Bundesorgane. Landesverwaltungen, die Bundesrecht ausführen, werden ebenso wenig verpflichtet wie juristische Personen des Privatrechts, an denen der Bund mehrheitlich beteiligt ist. Auch vollständig private Wirtschaftsakteure bleiben ausgeklammert von der Pflicht zu barrierefreier Informationstechnik; nicht einmal Zuwendungsempfänger nach § 1 Abs. 3 BGG-neu werden einbezogen.
Im digitalen Zeitalter des 21. Jahrhunderts sind diese Einschränkungen nicht zu rechtfertigen und müssen revidiert werden. Der Bund darf nicht „sehenden Auges“ dazu beitragen, dass mit den rasant sich verändernden Internetangeboten neue Barrieren für Menschen mit Behinderungen aufgebaut und die Chancen für ein barrierefreies Internet für alle auf lange Zeit vertan werden.
Ergänzend weist der SoVD darauf hin, dass nicht nur „Internetangebote“ allgemein, sondern auch mobile Anwendungen, einschließlich Apps, in die Verpflichtung zur Barrierefreiheit nach § 11 BGG-neu einbezogen werden sollten, um die Norm zukunftssicher zu gestalten.
Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass auch Intranetangebote des Bundes barrierefrei gestaltet werden sollen. Es wird angeregt, dies in § 11 Abs. 1 BGG-neu mit zu regeln, dann bräuchte es die – durchaus einschränkenden – Sonderregelungen in Abs. 2 nicht.
l. § 13 BGG Fachstelle für Barrierefreiheit
Der SoVD begrüßt nachdrücklich, dass der Bund die Schaffung einer Fachstelle Barrierefreiheit beabsichtigt. Damit wird einer langjährigen Forderung der Verbände Rechnung getragen. Der beabsichtigte finanzielle und personelle Umfang ist als ernsthaftes Zeichen zu werten, Barrierefreiheit strukturell und systematisch voranzubringen. Leider ist die Fachstelle vorrangig auf Bundesbehörden ausgerichtet, für die sie tätig werden soll.
Für Wirtschaft, Verbände und Zivilgesellschaft ist bislang nur eine ergänzende Beratung vorgesehen. Die Fachstelle wird damit kaum die Lücke schließen können, die durch die Schließung des von den Verbänden getragenen Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit (BKB) entsteht. Um hier einen Rückschritt zu verhindern, müssen daher die Aufgaben der Fachstelle um die Unterstützung der Zivilgesellschaft und insbesondere der Verbände von Menschen mit Behinderungen erweitert werden. Dafür müssen Sensibilisierungs- und Schulungsmaßnahmen ermöglicht werden. Auch darf das Aufgabenprofil nicht nur die reaktive Begleitung von Forschungsvorhaben beinhalten. Vielmehr ist auch die Initiierung, Begleitung und Durchführung von Projekt- und Forschungsvorhaben zu ermöglichen. Überdies sollte der internationale Bereich Berücksichtigung finden. Schließlich ist in der an die Stelle des BKB tretenden Fachstelle die Partizipation der Verbände von Menschen mit Behinderungen besser auszugestalten. Dafür ist der vorgesehene Expertenkreis mehrheitlich aus dem Kreis der Behindertenverbände zu besetzen.
In diesem Sinne wird folgende Neufassung von § 13 Abs. 2 BGG-neu vorgeschlagen:
(2) Die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit ist zentrale Anlaufstelle zu Fragen der Barrierefreiheit für die Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des § 1 Absatz 2 sowie für Verpflichtete nach § 1 Abs. 3 und 4. Sie berät und unterstützt darüber hinaus auch Wirtschaft, Verbände und Zivilgesellschaft auf Anfrage. Ihre Aufgaben sind:
- Zentrale Anlaufstelle und Erstberatung,
- Bereitstellung, Bündelung und Weiterentwicklung von unterstützenden Informationen zur Herstellung von Barrierefreiheit,
- Unterstützung der Verbände behinderter Menschen bei Zielvereinbarungsverhandlungen, durch Schulungsmaßnahmen und andere geeignete Aktivitäten,
- Aufbau eines Netzwerks,
- Initiierung und Begleitung von Projekt- und Forschungsvorhaben zur Verbesserung der Datenlage und zur Herstellung von Barrierefreiheit und
- Bewusstseinsbildung durch Sensibilisierung und Öffentlichkeitsarbeit.
Ein Expertenkreis, dem mehrheitlich Vertreterinnen und Vertreter der Verbände von Menschen mit Behinderungen angehören, berät die Fachstelle.
m. § 14 BGG Vertretungsbefugnisse
§ 14 BGG-neu regelt, wie auch bislang schon, die Möglichkeit für Menschen mit Behinderungen, dass an ihrer Stelle anerkannte Behindertenverbände Rechtsschutz beantragen können.
Problematisch ist der enge Anwendungsbereich der Norm. Gerügt werden können weder Rechtsverletzungen durch Private, z.B. Zuwendungsempfänger (§ 1 Abs. 3 BGG-neu), noch durch Auslandsvertretungen (§ 1 Abs. 4 BGG-neu). Die fehlende Barrierefreiheit kann auch nicht für Bestandsbauten des Bundes (§ 8 Abs. 2 BGG-neu) oder für Mietobjekte des Bundes (§ 8 Abs. 3 BGG-neu) gerügt werden. Auch wird die Verweigerung Leichter Sprache (§ 11 BGG-neu) von der gerichtlichen Überprüfbarkeit durch Verbände nach § 14 BGG-neu ausgeklammert, ebenso Barrieren im Intranet der Bundesbehörden (§ 12 Abs. 2 BGG-neu).
n. § 15 BGG Verbandsklagerecht
Der SoVD bewertet sehr positiv, dass die Möglichkeit der Verbandsklage, wie sie im BGG auch bisher schon verankert war, erhalten bleibt.
Bedauerlich ist, dass die Verbandsklage auf Feststellungsklagen beschränkt bleiben soll. Damit könnten Verbände wie der SoVD auch zukünftig vor Gericht lediglich einen Verstoß gegen Verpflichtungen zur Barrierefreiheit feststellen lassen. Dem SoVD bliebe es hingegen verwehrt, mittels Leistungsklage vor Gericht die Beseitigung festgestellter Barrieren einzufordern. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, die Verwaltung sei ohnehin an Recht und Gesetz gebunden und werde ein Feststellungsurteil beachten; daher brauche es keine Leistungsklage. Diese Begründung trägt nicht. Denn die Leistungsklage ist im Verwaltungsrecht anerkannt. Überdies können sich Verbandsklagen nicht nur gegen Träger öffentlicher Gewalt, sondern z. B. auch gegen Eisenbahn- oder Luftfahrtunternehmen richten. Daher braucht es die Leistungsklage, um Verbesserungen für Barrierefreiheit gerichtlich einfordern zu können.
Zusätzlich verweist der SoVD darauf, dass auch Vorschriften zur Barrierefreiheit im Bereich Fernbusse (§ 42 b PBefG) und im E-Government-Gesetz (§ 16) verbandsklagefähig ausgestaltet werden müssen, insofern ist der Katalog in § 15 Abs. 1 Ziffer 2 BGG-neu zu ergänzen.
Der SoVD begrüßt, dass zukünftig nicht nur Maßnahmen, sondern auch deren Unterlassen mit der Verbandsklage gerügt werden können. Er regt jedoch an zu überprüfen, ob eine Verbandsklage auch zukünftig nur dann zulässig sein soll, wenn es sich um einen „Fall von allgemeiner Bedeutung“ (§ 15 Abs. 2 Satz 2 BGG-neu) handelt. Der SoVD unterstreicht, dass in Bundesländern z. T. auf diese Einschränkung bereits verzichtet wird und verweist exemplarisch auf das Inklusionsstärkungsgesetz NRW.
o. § 16 BGG Schlichtungsstelle
Der SoVD begrüßt und unterstützt die Einrichtung einer Schlichtungsstelle. Dort geführte Schlichtungsverfahren ermöglichen ein niederschwelliges, kostengünstiges Verfahren, wenn Einzelpersonen schnell und unbürokratisch Verbesserungen bei der Barrierefreiheit erreichen möchten. Insoweit ist es notwendig und richtig, Schlichtungsverfahren vorrangig auf Einzelfallbeschwerden zu fokussieren. Das Schlichtungsverfahren als notwendiges Vorverfahren für Verbandsklagen sieht der SoVD hingegen nicht für zwingend erforderlich an.
Sicherzustellen ist, dass die Verweigerung angemessener Vorkehrungen vor der Schlichtungsstelle gerügt werden kann; hierfür befürwortet der SoVD eine ausdrückliche Klarstellung in der Gesetzesbegründung.
Ganz erheblicher Kritik begegnet der Umstand, dass Fragen der Barrierefreiheit im Bereich der Privatwirtschaft nicht vor der Schiedsstelle verhandelt und entschieden werden können. Stattdessen soll sich die Stelle auf den Bereich der öffentlichen Verwaltung beschränken und Probleme im privaten Bereichunangetastet lassen. Dies ist aus Sicht des SoVD nicht hinnehmbar. In Österreich existiert das Schlichtungsverfahren bereits. Dort findet es seine Hauptanwendung im Bereich der Privatwirtschaft und ist gerade deshalb als erfolgreich und wirksam anerkannt.
p. § 19 BGG Förderung der Partizipation
Die Bundesregierung beabsichtigt, einen Fonds einzurichten, aus dem Maßnahmen von Verbänden der Menschen mit Behinderungen gefördert werden, die der verstärkten Teilhabe der Menschen mit Behinderungen an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten dienen.
Die Einrichtung eines solches Fonds wird seitens des SoVD im Grundsatz begrüßt, da es die Beteiligung von Behindertenverbänden zu unterstützen geeignet ist. Jedoch muss die konkrete Umsetzung abgewartet werden, um die realen Wirkungen tatsächlich bewerten zu können.
4. Schlussbemerkung und Ausblick
Der SoVD konstatiert in dem Referentenentwurf zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsgesetzes erhebliche Defizite zur Umsetzung von Barrierefreiheit, wenngleich er einige positive Regelungsansätze durchaus anerkennt. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren muss es gelingen, die benannten Defizite noch zu beheben und spürbare Verbesserungen im Interesse der Menschen mit Behinderungen zu erreichen.
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik
Stellungnahmne: Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) [199 KB]
[1] abrufbar unter: http://www.deutscher-behindertenrat.de/mime/00087477D1425293851.pdf
[2] vgl. § 1 des Inklusionsstärkungsgesetzes Nordrhein-Westfalen, § 1, Drs. 16/9761 abrufbar unter:
https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument?typ=P&Id=MMD16/9761&quelle=alle&wm=1&action=anzeigen
[3] vgl. § 6 des Inklusionsstärkungsgesetzes Nordrhein-Westfalen, Drs. 16/9761 abrufbar unter:
https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument?typ=P&Id=MMD16/9761&quelle=alle&wm=1&action=anzeigen
[4] vgl. u.a. gesetzliche Regelungen in NRW und Brandenburg