Stellungnahme des Sozialverband Deutschland (SoVD) anlässlich der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages am Mittwoch, den 4. November 2020, zu den Vorlagen
Antrag der Fraktion der AfD
Beseitigung von Teilhabebeeinträchtigungen aufgrund von Sehschwächen durch Erweiterung der Versorgung gesetzlich Versicherter mit Sehhilfen
BT-Drucksache 19/4316
Antrag der Fraktion der FDP
Sehhilfen als Satzungsleistung – Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung stärken
BT-Drucksache 19/18913
Antrag der Fraktion DIE LINKE.
Gesundheitsversorgung für alle sichern
BT-Drucksache 19/6057
Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Verlässliche und bedarfsgerechte Versorgung mit Sehhilfen in der gesetzlichen Krankenversicherung
BT-Drucksache 19/8566
1 Zusammenfassung der Anträge
In den Anträgen kritisieren die Antragsteller*innen die derzeitige Ausgestaltung der Versorgung mit Sehhilfen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dies werde den Ansprüchen der sehbeeinträchtigten gesetzlich Versicherten nicht gerecht. Zur Lösung werden von den Antragsteller*innen jedoch unterschiedliche Ansätze favorisiert:
Mehrheitlich fordern die Anträge eine sofortige bzw. schrittweise Wiederaufnahme der Erstattungsfähigkeit von medizinisch notwendigen Sehhilfen in den Leistungskatalog der GKV. Die geltenden Regelungen für eine Kostenübernahme seien zu eng gefasst.
Angesichts der zu erwartenden Mehrausgaben und vor dem Hintergrund der Kostenwirkung bereits verabschiedeter bzw. noch geplanter kostenintensiver Gesetze, sei nach Auffassung der Antragsteller*innen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN dabei ein schrittweises Vorgehen bei der Wiederaufnahme von Sehhilfen in den Leistungskatalog der GKV geboten. In einem ersten Schritt würde ein Anspruch auf vollständige Kostenüberahme für medizinisch notwendige Brillengläser zunächst für volljährige Versicherte geschaffen werden, die wegen einer Kurz- oder Weitsichtigkeit Gläser mit einer Brechkraft von mindestens 5 Dioptrien benötigen. Für jene, die Gläser mit einer Brechkraft von mindestens 2 Dioptrien benötigen, bestünde ein Anspruch auf hälftige Kostenübernahme (Festzuschüsse zu den Gläsern i. H. v. 50 %). Zugleich seien speziell Bezieher*innen von Leistungen nach dem SGB II und SGB XII vor finanzieller Überforderung zu schützen, entweder durch eine zusätzliche Regelung im Rahmen des Sonderbedarfs nach SGB II bzw. SGB XII oder mittels einer Härtefallregelung im Rahmen des SGB V.
Nach den Vorstellungen der Fraktion der FDP sollen hingegen ärztlich verordnete Sehhilfen wie Brillengestelle und Gläser, zusätzliche Sonnenbrillen in Sehstärke und Kontaktlinsen von den gesetzlichen Krankenkassen künftig als Satzungsleistungen angeboten werden dürfen. Dabei soll es den Kassen freigestellt werden, ob und in welchem Umfang sie ärztlich verordnete Sehhilfen als Satzungsleistungen anbieten oder unterstützen möchten.
Daneben kritisieren die Antragsteller*innen der Fraktion DIE LINKE weitere Leistungskürzungen in der GKV. Sie fordern, dass die GKV unter Beteiligung der Arbeitgeber*innen alle Leistungen finanzieren sollte, die im Rahmen einer medizinischen Behandlung notwendig sind. So seien etwa sinnvolle verschreibungspflichtige Arzneimittel wieder zu erstatten und eine Positivliste vom Gemeinsamen Bundesausschuss zu erarbeiten. Daneben sollen Fahrkosten wieder in allen Fällen erstattet werden, die im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkassen notwendig sind.
2 Gesamtbewertung
In den letzten Jahrzehnten wurde die GKV vornehmlich als Kostenfaktor angesehen. Die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz umgesetzte Reform des deutschen Gesundheitswesens, deren Regelungen überwiegend zum 1. Januar 2004 in Kraft traten, wurde v. a. aus Gründen der Kostenreduzierung betrieben. Anstatt die Finanzierung der GKV langfristig stabil und gerecht zu gestalten, wurden mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GKV-GMG) Leistungen umfassend ausgegliedert, gekürzt oder neue Hürden für deren Inanspruchnahme geschaffen und die Versicherten finanziell immer stärker einseitig belastet. Tragende Prinzipien, wie das Solidaritätsprinzip sowie das Sachleistungsprinzip, wurden dadurch vernachlässigt. Dies geht vor allem zu Lasten der Bevölkerungsgruppen, die eine hohe Krankheitslast aufweisen, nämlich sozial benachteiligte und ältere Menschen, chronisch kranke Menschen sowie Menschen mit Behinderung.
Der SoVD ist der Meinung, dass alle Versicherten im Krankheitsfall umfassend und auf einem Niveau versorgt werden müssen. Dies abzusichern ist Aufgabe der GKV. Dafür müssen alle Leistungen durch die GKV erbracht werden, die für eine zeitgemäße medizinische Gesundheitsversorgung notwendig und wirtschaftlich sind. Leistungen, auf die dies nicht zutrifft, sollen dementsprechend nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung angeboten werden. Verzögerungen und überlange Verfahren bei der Entscheidung über die Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung sind zu vermeiden. Den Versicherten ist ein gleichberechtigter Zugang zu den notwendigen Gesundheitsleistungen zu gewähren.
Der SoVD teilt die Einschätzung der Anträge im Hinblick auf die derzeit unzureichend ausgestaltete Versorgung im Sehhilfenbereich des Leistungskatalogs der GKV und fordert die Wiederherstellung der Erstattungsfähigkeit medizinisch notwendiger Sehhilfen. Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Versicherten. Sehhilfen dienen der Verbesserung der Sehfähigkeit oder zur Rehabilitation von Sehstörungen, weshalb sie als Hilfsmittel zur originären Leistungsbereich der Krankenversorgung gehört. Von den umfassenden Leistungskürzungen und -ausgliederungen durch das GKV-GMG war auch der Hilfsmittelbereich der Sehhilfen massiv betroffen. Der Leistungsanspruch bei der Versorgung mit Sehhilfen wurde grundsätzlich gestrichen und auf Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres sowie auf schwer sehbeeinträchtigte Versicherte begrenzt (§ 33 SGB V). Fortan mussten GKV-Versicherte die Kosten für Sehhilfen überwiegend selbst tragen. Dies geht vor allem zu Lasten der Bevölkerungsgruppen, die eine hohe Krankheitslast aufweisen, nämlich sozial benachteiligte und ältere Menschen, chronisch kranke Menschen sowie Menschen mit Behinderung. Bemühungen zur Kurskorrektur, etwa durch das Heil- und Hilfsmittelgesetz (HHVG), das im Wesentlichen im Jahr 2017 in Kraft trat, blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Zwar hat der Gesetzgeber den Kreis der Anspruchsberechtigten grundsätzlich erweitert. Mit der Begrenzung auf Versicherte bei Myopie (Kurzsichtigkeit) und Hyperopie (Weitsichtigkeit), die einen Fern-Korrekturausgleich für einen Refraktionsfehler von mehr als 6 Dioptrien benötigen und bei Astigmatismus (Hornhautverkrümmung) bei mehr als 4 Dioptrien, wurde der ergänzend begünstigte Personenkreis jedoch sehr eng gefasst.
Es wäre jedoch falsch, als Lösung Sehhilfen künftig als Satzungsleistungen der gesetzlichen Krankenkassen auszugestalten und es den Kassen freizustellen, ob und in welchem Umfang sie ärztlich verordnete Sehhilfen anbieten oder unterstützen. Damit drohen für weitere Versicherte, die zumindest nach dem heutigen Stand zu dem engen Personenkreis der Erstattungsberechtigten zählen, der Wegfall des Leistungsanspruchs auf die notwendige medizinische Versorgung mit Sehhilfen. Dies gilt umso mehr, als dass nach den Vorstellungen der Fraktion der FDP die Kassen künftig flexibel und je nach wirtschaftlicher Lage Sehhilfen als Satzungsleistungen erhöhen oder – insbesondere – reduzieren könnten. Vielmehr droht damit eine stetige Ungewissheit und Unsicherheit, ob und gegebenenfalls wie lange ein Versorgungsanspruch bei der eigenen Krankenkasse für Sehhilfen (noch) besteht. Soweit in dem Antrag angeführt wird, Versicherte könnten bei Bedarf die Krankenkasse wechseln und die zusätzlichen Satzungsleistungen so in Anspruch nehmen, wird die Bindungsfrist nach einem Kassenwechsel von derzeit 18 Monaten (bzw. ab 1.1.2021 von 12 Monaten) außer Acht gelassen. Wird die Erstattungsfähigkeit von Sehhilfen als Satzungsleistung – flexibel und entsprechend der wirtschaftlichen Lage – von der Kasse innerhalb der Bindungsfirst gekürzt, nachdem ein Versicherter zu ihr gewechselt hat, ist der Versicherte vorerst an die Kasse gebunden. Ein Sonderkündigungsrecht besteht nicht. Ob mit diesem Vorschlag tatsächlich ein gutes Wirtschaften der Kassen belohnt werden würde, wird deshalb bezweifelt. Wirtschaftet die Kasse schlecht, darf dies keine Auswirkungen auf die Versorgung mit medizinisch notwendigen Leistungen für die Versicherten haben. Für ein schlechtes Wirtschaften der Kasse sind nicht deren Versicherte verantwortlich. Medizinisch notwendige Leistungen müssen in einem solidarischen Gesundheitssystem allen Versicherten zur Verfügung stehen und darf nicht als Schnitzeljagd ausgestaltet werden.
Angesichts der zu erwartenden Mehrausgaben und vor dem Hintergrund der Kostenwirkung bereits verabschiedeter bzw. noch geplanter kostenintensiver Gesetze, kann ein schrittweises Vorgehen bei der Wiederaufnahme von Sehhilfen in den Leistungskatalog der GKV, wie es die Antragsteller*innen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN vorschlagen, sinnvoll sein. Perspektivisch sieht auch dieser Antrag eine solche Wiederherstellung der mit dem GKV-GMG abgeschafften Regelung zur Erstattungsfähigkeit medizinisch notwendiger Sehhilfen vor, was der SoVD begrüßt. Die im ersten Schritt vorgesehene Wiederherstellung der vollständigen bzw. teilweisen Erstattungsfähigkeit würde viele Sehbeeinträchtigte begünstigen und den Zugang zu medizinisch notwendigen Sehhilfen ermöglichen, bei denen es aus Kostengründen eine Selbstversorgung bislang nicht möglich war. Soweit die Antragsteller*innen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN daneben eine Regelung zum Schutz vor finanzieller Überforderung von Leistungsbeziehenden nach den SGB II und SGB XII bei medizinisch notwendigen Sehhilfen fordern, ist dies folgerichtig. Mit der vollständigen Wiederaufnahme der Erstattungsfähigkeit von Sehhilfen in dem Leistungskatalog des SGB V wäre eine solche Regelung über die „Notfallsysteme des deutschen Sozialversicherungssystems sodann obsolet.
Im Interesse der Patient*innen, der gesetzlich Versicherten, chronisch kranker und behinderter Menschen sieht der SoVD weiteren Bedarf der Wiederherstellung der ursprünglichen Erstattungsfähigkeit im Leistungsspektrum der GKV, die im Zusammenhang mit der Krankenbehandlung und Erbringung notwendiger medizinischer Leistungen stehen. Dies betrifft etwa die von den Antragsteller*innen der Fraktion DIE LINKE. geforderte Erstattung zweckmäßiger verschreibungsfreier Arzneimittel. Seit das GKV-GMG 2004 in Kraft getreten ist, erstatten die Krankenkassen in der Regel keine rezeptfreien Arzneimittel mehr. Ausgenommen sind Kinder unter zwölf Jahren sowie Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum 18. Lebensjahr, denen nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel ärztlich verordnet werden. Bei Erwachsenen dürfen Ärzt*innen diese Medikamente nur noch in Ausnahmefällen zulasten der GKV verordnen. Der Ausschluss der Erstattungsfähigkeit belastet insbesondere chronisch Kranke und Menschen mit geringen Einkommen oder Rente. Stattdessen können Krankenkassen nicht verschreibungspflichtigen apothekenpflichtigen Arzneimitteln als Satzungsleistungen anbieten. Es gilt die o.g. grundlegende Kritik an Satzungsleistungen entsprechend. Ein ungleicher Zugang zu Leistungen bei gleichem Versichertenstatus in der gesetzlichen Krankenversicherung ist nicht akzeptabel. Im Übrigen schließt sich der SoVD der Forderung nach einer längst überfälligen Einführung einer Positivliste an.
Dies betrifft die von den Antragsteller*innen der Fraktion DIE LINKE. angesprochene Erstattungsfähigkeit von Fahrkosten, die mit dem GKV-GMG ebenfalls stark beschränkt wurde. Der SoVD kritisiert auch hier die Beschränkung der Erstattung der Kosten notwendiger Fahrten allein aus Kostendämpfungsgründen. Heute werden Fahrkosten nach dem SGB V, die im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind, nur in bestimmten Fällen erstattet. Angesichts der zunehmenden stationsersetzenden, ambulanten Behandlungen zur Vermeidung und Entlastung stationärer Versorgung, sieht der SoVD zumindest die Überarbeitung der KT-RL und Ausweitung der Kostenübernahme auf weitere notwendige Fallkonstellationen, als erforderlich an. So besteht etwa der Bedarf der Verordnungsmöglichkeit von Krankenfahrten im Zusammenhang mit Angeboten der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung nach § 116b SGB (ASV). Inzwischen ist es aufgrund des medizinischen Fortschritts möglich, viele bisher stationär erbrachten Behandlungen ambulant durchzuführen. Ziel der ASV ist eine qualitativ hochwertige Diagnostik und Behandlung komplexer, häufig schwer therapierbarer Krankheitsbilder durch spezialisierte Ärzt*innen, die interdisziplinär und mit besonderer Ausstattung zusammenarbeiten. Diese Entwicklung wirkt sich nicht nur auf die Krankenhausversorgung, sondern auch auf die ambulante Versorgung aus. Sie erhöht insbesondere die Anforderungen an interdisziplinäre Diagnostik und Therapie im ambulanten Bereich und bringt zugleich einen Trend zur (begrenzten) Verlagerung der Versorgung in den ambulanten Bereich mit sich (GKV-Versorgungsstrukturgesetz – GKV-VStG), BT-Drs. 17/6906, S. 80). Eine Verordnungsmöglichkeit der Krankenfahrt für Versicherte, die von Angeboten der ASV nach § 116 b SGB V profitieren können, wird den Entwicklungen des medizinischen Fortschritts in der Versorgung gerecht. Der Zugang zur ASV soll nicht von der wirtschaftlichen Situation der Patient*innen abhängig gemacht werden, denn bei stationärer Behandlung würde ein Anspruch auf Übernahme der Fahrtkosten bestehen.
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik
SoVD-Stellungnahmne: Sehhilfen – Bedarfsgerechte Versorgung sicherstellen [168 KB]