Mehrwertsteuer
Stellungnahme des SoVD zum Konsultationspapier der Europäischen Kommission über die Überprüfung bestehender Mehrwertsteuer-Rechtsvorschriften zu öffentlichen Einrichtungen und Steuerbefreiungen für dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten
Mit dem vorliegenden Konsultationspapier sollen die Folgen eines möglichen entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens eruiert werden. Seit 2010, als das "Grünbuch über die Zukunft der Mehrwertsteuer" veröffentlicht wurde gibt es von Seiten der Kommission immer wieder Überlegungen, die Mehrwertsteuerregelungen für öffentliche Einrichtungen und gemeinwohlorientierte Tätigkeiten zu reformieren.
Als Hauptgrund für die Reformpläne gibt die Kommission an, dass erhebliche Bedenken gegen die derzeitige mehrwert-steuerliche Behandlung bestehen. Dabei geht sie davon aus, dass die zunehmende Privatisierung von Tätigkeiten, die zuvor ausschließlich dem öffentlichen Sektor vorbehalten waren oder originär wohlfahrtsstaatlichen Zwecken dienen, zu mehr Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Akteuren führt und dass die bestehenden Regelungen Ver-zerrungen des Wettbewerbs zur Folge haben.
So könnten sich bei den Ausgangsumsätzen Wettbewerbsverzerrungen ergeben, da dieselbe Tätigkeit besteuert werden kann oder nicht, je nachdem ob sie von einer privaten oder einer öffentlichen Einrichtung erbracht wird. Bei den Eingangsumsätzen komme es zu Wettbewerbsverzerrungen, weil die Vorsteuer nicht abzugsfähig ist, wenn der betreffende Eingangsumsatz sich auf nicht steuerbare oder steuerbefreite Ausgangsumsätze bezieht. Nach Angaben der Kommission dürften nun (private) Wettbewerber nicht benachteiligt werden.
Aus einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie von "Copenhagen Economics" leitet die Kommission im Konsultationspapier fünf verschiedene Optionen ab, die aus ihrer Sicht geeignet sind, die vermeintlich bestehenden Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen.
Der SoVD lehnt das Vorhaben der Kommission, das Mehrwertsteuerrecht und die damit zusammenhängenden Verwaltungsverfahren zulasten gemeinnütziger Organisationen zu verändern, ab.
Dies gilt schon allein, weil gerade im Bereich gemeinnütziger und sozialer Leistungen und Dienste kein Risiko von Wettbewerbsverzerrungen besteht und sich daher keine Notwendigkeit eines Tätigwerdens der Europäischen Union ergibt. Die bestehenden Regelungen sind unverzichtbar, um die Arbeitsfähigkeit und damit den notwendigen Beitrag gemeinnütziger Organisationen am Gemeinwohl zu sichern. Schon aus der Natur dieser Leistungen und Dienste ist zu entnehmen, dass sie eben gerade nicht auf die Teilnahme am "Wettbewerb" bzw. dem "Binnenmarkt" ausgerichtet sind.
Die im Papier als "priviligiert" bezeichneten Einrichtungen und Dienste, ermöglichen Bürgerinnen und Bürgern oft erst überhaupt am sozialen Leben teilzuhaben. Sie bewahren sozial benachteiligte Menschen vor Exklusion und sozialer Deprivation. Sie nehmen sich ? eben weil sie keine wirtschaftlichen Interessen verfolgen ? Problemen an, die von Staat und Wirtschaft vernachlässigt werden und fördern entscheidend gesellschaftlichen und politischen Dialog.
Die bestehenden Regelungen dienen daher nicht der "Besserstellung" gemeinnütziger Organisationen, sondern ermög-lichen überhaupt erst die Erbringung bestimmter für die meisten Mitgliedstaaten essentieller sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Dienste. Eine Abschaffung oder entsprechende Begrenzung der Regelungen würde die Exi-stenz der meisten dieser Leistungen und Dienste derart bedrohen, dass Armut, soziale Ausgrenzung, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit gefördert, statt bekämpft werden würden.
Die geltenden Regelungen der Mehrwertsteuerrichtlinie zu den Ermäßigungs- bzw. Befreiungstatbeständen haben aus diesem Grund als richtiges und notwendiges (wohlfahrtsstaatliches) Ziel, dem Gemeinwohl dienende Umsätze von der Steuerbelastung auszunehmen. Negative Effekte können durch die Mitgliedstaaten wirkungsvoll korrigiert werden. Auch genießen privatwirtschaftliche Wettbewerber kein besonderes Schutzbedürfnis. Ihnen steht bei Wettbewerbsverzerrungen der Rechtsweg offen.
Der SoVD weist daher in aller Deutlichkeit darauf hin, dass kein Reformbedarf in diesem Bereich besteht und die kom-petenzrechtlichen Vorgaben der Verträge dringend beachtet werden müssen.
Zu der im Rahmen der Konsultation aufgeworfenen Frage nach der Bewertung der einzelnen Reformoptionen bzw. -maßnahmen äußert sich der SoVD daher nur unter Hinweis auf die vorstehenden grundsätzlichen Ausführungen.
Option "Vollbesteuerung"
Der SoVD fordert, die im Konsultationspapier dargestellte Option "Vollbesteuerungsmodell" von vornherein auszuschließen, da dies nicht nur eine finanzielle Belastung in Milliardenhöhe für die Systeme der deutschen Sozialversicherung bedeuten würde. Mehrwertsteuerbefreite Leistungen, wie z.B. Heil- und Krankenhausbehandlungen oder ermäßigt besteuerte Leistungen, wie z.B. medizinische Hilfsmittel, würden damit dem vollen Mehrwertsteuersatz unterworfen. Diese zusätzliche Steuerlast würde nicht nur die Träger und Leistungserbringer selbst, sondern vor allem die Beitragszahlenden und Bürgerinnen und Bürger treffen, die diese finanzieren müssten oder mit entsprechenden Leistungsverschlechterungen zu rechnen hätten1. Besonders schutzbedürftige Menschen in Notlagen und Situationen ohne echte Wahlmöglichkeit wären mit eklatanten Mehrkosten oder entsprechendem Leistungsausfall/Minderleistungen konfrontiert.
In der vom "Copenhagen Economics" vorgestellten Variante dieser Option wären auch entgeltlose Tätigkeiten betroffen. Diese Umsetzung dieser Option hätte die Zerstörung der Versorgungslandschaft in Deutschland zur Folge und ist zwingend abzulehnen.
Option "Streichung Steuerfreiheit für öffentliche Einrichtungen"
Die Option "Streichung von Art. 13 MwSt.-Richtlinie bei gleichzeitiger Beibehaltung von Steuerbefreiungen für dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten" sieht vor, die Steuerbefreiung für Einrichtungen des öffent-lichen Rechts (Art. 13 MwSt.-RL) zu streichen, die Steuerbefreiungen für gemeinwohlorientierte Tätigkeiten (Art. 132 ? 134 MwSt.-RL) beizubehalten. Sie ist aus Sicht des SoVD ebenfalls unbedingt ablehnungsbedürftig. Bei einer Umsetzung dieser Option würden öffentliche und private Einrichtungen gleichbehandelt. Es würde nicht mehr länger auf den Charakter der Leistung ankommen, sondern allein auf die Art bzw. gewählte Rechtsform des Erbringers. Eine "Flucht" bestimmter Anbieter in priviligierte Rechtsformen, unabhängig von der eigentlichen Leistung bzw. dem Wesen des erbrachten Dienstes, wäre zu befürchten. Sachgrundlose Wettbewerbsverzerrungen würden damit nicht verhindert, sondern gefördert.
Option "Erstattungssystem"
Bei dieser Option würde die entrichtete Vorsteuer erstattet werden, wenn die Eingangsumsätze für die Zwecke nicht steuerbarer/steuerbefreiter Tätigkeiten (Art. 13, 132 - 134 MwSt.-RL) verwendet werden. Derartige Ausgleichssysteme existieren nach Kenntnis des SoVD bereits in wenigen Mitgliedstaaten. ? Dort aber jeweils in sehr unterschiedlicher Ausgestaltung und in der Regel außerhalb bzw. nur in Ergänzung zu den Mehrwertsteuerregelungen. Nach Einschätzung des SoVD wäre ein nationales Erstattungssystem bzw. entsprechend auf europäischer Ebene "Nullsteuersystem" zwar mit Vorteilen im Hinblick auf die Eingangssteuersätze verbunden. Die Ausgangssteuersätze blieben davon unberührt. Die von der Kommission angeführten vermeintlichen "Wettbewerbsverzerrungen" blieben bestehen oder würden sogar verstärkt.
Angesichts der dann zu erwartenden staatlichen Mindereinnahmen bzw. Mehrausgaben in Milliardenhöhe, ist fraglich, ob und inwieweit diese zusätzliche Belastung der Staatshaushalte ohne weitere gravierende Ein-schnitte in die sozialen Sicherungssysteme und/oder die Leistungen und Einrichtungen der Daseinsvorsorge finanzierbar wäre. Eine entsprechende Gegenfinanzierung durch Steuererhöhungen hätte wiederum zur Folge, dass es zu negativen Verteilungswirkungen käme.
Die dargestellte Option wäre daher nur dann eine echte Alternative zum derzeitigen System, wenn die Gegenfinanzierung nicht zu einer weiteren Belastung sozial benachteiligter Menschen führen würde. Solange dies nicht sichergestellt werden kann, ist diese Option daher ebenfalls ablehnungsbedürftig.? ?
Option "Wahlrecht"
Der unter dem Titel "Punktuelle Änderungen der geltenden Vorschriften" dargelegte Vorschlag, den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht hinsichtlich der Besteuerung von dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten einzuräumen, widerspricht wiederum selbst dem von der Kommission zur Begründung ihres Vorhabens angeführten Harmonisierungsgedanken und dem Ziel, Steuerregeln zu vereinfachen. Das Mehrwertsteuer-system der EU würde weiter kompliziert statt vereinfacht werden. Die Gefahr einer Belastung für die sozialen Sicherungssysteme und die Beitragszahlenden wäre damit noch nicht ausgeräumt, sondern nur "verschoben".
Außerdem besteht bereits jetzt die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, die MwSt.-Regeln flexibel anzu-wenden (Art. 133 d MwSt-RL) und daher keine echte Notwendigkeit für eine neue Regelung.
Option "sektorale Reform"
Diese Option könnte dazu dienen, zielgenau Sektoren zu adressieren, in denen auf Grundlage der bestehenden Vorschriften tatsächlich ? sozial- und wohlfahrtsstaatlich nicht zu begründende ? Wettbewerbsverzerrungen auftreten. Bevor solche Reformoptionen eingeleitet werden, müsste jedoch zwingend überprüft werden, ob und in welchem Maße diese zielführend sind und eine entsprechende Folgenabschätzung erfolgen.
Hierbei ist dem Schutzbedürfnis von Diensten und Leistungen, die sozial- oder wohlfahrtsstaatlichen Zwecken bzw. der Daseinsvorsorge dienen, besondere Rechnung zu tragen. Solche Leistungen oder Dienste dürfen nicht allein wirtschaftlichen Maßstäben unterworfen werden.
Die im Konsultationspapier von der Kommission angeführte Begründung für die Sektorenauswahl ist nicht ausreichend. Auch Sektoren, in denen es potentiell zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen kommen kann oder in denen hohe Investitionskosten anfallen, können dem Gemeinwohl dienende Leistungen oder Dienste sein. Sie unterfallen aus gutem Grund einer besonderen Regelung. Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten bereits die Möglichkeit, die Befreiung davon abhängig zu machen, dass es gegenüber gewerblichen Wettbewerbern keine Verzerrungen gibt. Auch durch das Instrument der Konkurrentenklage sind unrechtmäßig benachteiligte Wettbewerber bereits hinreichend geschützt.
Die im Konsultationspapier vorgeschlagenen Änderungen an europäischen MwSt.-Vorschriften sind nicht notwendig und positive Effekte wären nicht zu erwarten. Die (begründeten) Mehrwertsteuerbefreiungen und ermäßigten Steuersätze für Leistungen und Dienste, die der sozialen Sicherheit und dem Gemeinwohl dienen, dürfen nicht abgeschafft werden. Die Mitgliedstaaten müssen ? entsprechend der eigenen Strukturen ? weiter in eigener Zuständigkeit entscheiden, welche Leistungen und Dienste besonderen Regelungen unterworfen sein sollen.
Das laut Kommission mit einer Reform des Mehrwertsteuersystems verfolgte Ziel, den Wettbewerb zu fördern, ist durch die bereits geltenden Regelungen der MwSt.-Richtlinie hinreichend gesichert. Das bestehende System ist auf jeden Fall den in der Diskussion befindlichen Reformvorschlägen vorzuziehen. Gerade die von Kommission und der Copenhagen Econimics zur Argumentation angeführten erwarteten positiven Effekte für die Bürgerinnen und Bürger sind aus den vorstehend dargestellten Gründen keinesfalls zu erwarten.
Einer Veröffentlichung unserer Stellungnahme stimmen wir zu.
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik
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