Rechtsvereinfachung im SGB II
Stellungnahme des SoVD zum Referentenentwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung
Zusammenfassung
Der Referentenentwurf ist entstanden aus den Ergebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Rechtsvereinfachung im SGB II. Erklärtes Ziel ist eine Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens im Bereich der Leistungsgewährung nach dem SGB II. Es geht bei den Vorschlägen nicht um Verbesserungen für die betroffenen Leistungsbeziehenden, sondern vor allem darum, den Jobcentern die Arbeit zu erleichtern. Infolge dessen beinhaltet der Referentenentwurf zahlreiche Detailregelungen, die in erster Linie eine Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens zum Ziel haben.
Äußerst bedauerlich ist, dass der Entwurf keinerlei Regelungen zu den im SGB II normierten Sanktionsmöglichkeiten enthält. Aus Sicht des SoVD wäre eine Überarbeitung der Sanktionsregelung besonders dringlich. Bereits die geringste Sanktion (Kürzung der Regelleistung) verringert den verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Gewährung des sozio-kulturellen Existenzminimums. Darüber hinaus hält der SoVD die Schlechterstellung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gegenüber erwachsenen Leistungsbeziehenden weder für sachgerecht noch für haltbar. Die derzeit geltenden Sonderregelungen für Jugendliche und junge Erwachsene müssen gestrichen werden.
Der SoVD spricht sich aus für eine Gesamtrevision des SGB II; vorhandene Mängel und unzureichende Ausgestaltung der Leistungsansprüche müssen endlich beseitigt werden. Der SoVD hat in seinem Konzept „Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik – Inklusion statt Hartz IV“ (www.sovd.de/neuordnung_der_arbeitsmarktpolitik) umfassende Vorschläge zur Generalrevision der Grundsicherung für Arbeitsuchende erarbeitet. Ziel des SoVD ist es, die Grundsicherung derart auszugestalten, dass die Kompetenzen und Fähigkeiten arbeitsuchende Menschen gestärkt werden und die Existenzsicherung tatsächlich gewährleistet ist.
Die wesentlichen Kernforderungen des SoVD sind:
- Die Vermittlung und Beratung von Langzeitarbeitslosen sind spürbar zu verbessern. Beratungs-, Vermittlungs- und Eingliederungsleistungen sind grundsätzlich bei der Bundesagentur für Arbeit anzusiedeln.
- Die Regelbedarfe müssen transparent ermittelt und bedarfsgerecht ausgestaltet werden. Bei Kinderregelbedarfen sind die kinderspezifischen Bedarfe besser zu berücksichtigen. Für erwachsene Menschen mit Behinderung, die nicht allein einen Haushalt führen können, muss durch eine gesetzliche Regelung gewährleistet werden, dass sie den Regelsatz nach Regelbedarfsstufe 1 erhalten. Es ist ein Zuschlag einzuführen, der die tatsächlichen Energiekosten auffängt.
- Langzeitarbeitslose, die über einen längeren Zeitraum erwerbstätig waren und Beiträge in die Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, sollen mit dem Arbeitslosengeld II Plus eine zusätzliche Geldleistung erhalten.
Im Folgenden äußert sich der SoVD zu ausgewählten Artikeln des Referentenentwurfs und fokussiert sich dabei auf diejenigen Neuregelungen, die sich aus Sicht des SoVD unmittelbar für die Bezieherinnen und Bezieher von Grundsicherungsleistungen auswirken.
Zu einzelnen Regelungen:
Zu Artikel 1 Nummer 4
§ 5 Abs. 4 SGB II-E
Künftig sollen Bezieher und Bezieherinnen von Arbeitslosengeld I, die zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ergänzend Leistungen nach dem SGB II beziehen, Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt von der Bundesagentur für Arbeit erhalten.
Dieses Vorhaben begrüßt der SoVD ausdrücklich. Es ist nicht einsichtig, dass Arbeitslose, die zwar Arbeitslosengeld I beziehen, aber allein aufgrund der niedrigen Höhe des Leistungsanspruchs auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, anders im Hinblick auf die Eingliederungsleistungen behandelt werden als andere Arbeitslosengeld I-Beziehenden Darüber hinaus haben sie in der Vergangenheit Beiträge aus ihrem Arbeitseinkommen an die Bundesagentur für Arbeit entrichtet. Diese Beiträge müssen auch zu einem Anspruch auf Eingliederungsleistungen gegenüber der Bundesagentur für Arbeit führen. Daher ist die Einbeziehung dieses Personenkreises in die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit -auch bzgl. der Eingliederungsleistungen - ein wichtiger und notwendiger Schritt.
Die Bundesagentur für Arbeit als öffentliche Einrichtung mit zentraler Steuerung und dezentralen Entscheidungszentren verfügt über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die seit Jahrzehnten mit der Eingliederung arbeitsloser Menschen betraut sind. Damit erfüllt die Bundesagentur für Arbeit aufgrund ihrer besonderen Struktur und des vorhandenen Fachpersonals die entsprechenden Voraussetzungen, um arbeitslose Menschen in Arbeit und Beruf einzugliedern. Daher sollten die Eingliederungsleistungen grundsätzlich für sämtliche arbeitslosen Menschen bei der Bundesagentur für Arbeit angesiedelt werden.
Zu Artikel 1 Nr. 7 Buchstabe a) bb) i.V.m. Artikel 1Nr. 33
§ 7 III Nr.4 SGB II-E i.V.m. § 38 II SGB II-E
Nach der Neuregelung wird - bei getrennt lebenden Eltern - das gemeinsame Kind derjenigen Bedarfsgemeinschaft zugerechnet, in der es sich hauptsächlich aufhält. Damit wäre das von der Rechtsprechung entwickelte Institut der „temporären Bedarfsgemeinschaft“ abgeschafft und das Sozialgeld verbliebe vollständig in einem Haushalt. Für den Fall, dass sich das Kind in annähernd gleichem Umfang in zwei getrennten Haushalten aufhält, soll es zu jeweils 50 % den beiden Bedarfsgemeinschaften zugerechnet werden.
Dem Gesetzgeber kommt hier die Aufgabe zu, die Existenz von Kindern abzusichern – unabhängig davon, in welcher Betreuungskonstellation sie aufwachsen.
Der SoVD hält das derzeitige Konstrukt der „temporären Bedarfsgemeinschaft“ für unbefriedigend. Die im Referentenentwurf fixierte Regelung, die Auszahlung des Sozialgeldes für das Kind in vollständiger Höhe an den Elternteil, in dessen Haushalt es sich überwiegend aufhält, kann jedoch auch nicht überzeugen. Dem hauptsächlich betreuenden Elternteil wird damit das vollständige Budget zur Verfügung gestellt, um die Versorgung des Kindes verlässlich zu finanzieren. Ein Ausgleich für die Sicherung des Existenzminimums für die Zeit, in der das Kind beim anderen Elternteil betreut wird, muss dann im Innenverhältnis zwischen den getrennt lebenden Eltern erfolgen. Dadurch werden die derzeit auftretenden Konflikte um die Lebensunterhaltssicherung zwischen Elternteil und Jobcenter auf beide Elternteile verlagert. Probleme von Trennungsfamilien werden zu Lasten der Kinder verschärft.
Für die Konstellationen, in denen das Kind sich in annähernd gleichem Umfang in zwei Haushalten aufhält, weist der SoVD darauf hin, dass ein hälftig geteilter Regelsatz die dabei anfallenden Kosten nicht abdecken kann. So fallen beispielsweise für zahlreiche Gebrauchsgegenstände sowie Möbel in den jeweiligen Haushalten Kosten an. Daher könnte ein entsprechender Mehrbedarf gewährt werden, um das Existenzminimum der Umgangskinder bei Aufenthalt in zwei Haushalten zu sichern.
Zu Artikel 1 Nr. 12 Buchstabe b
§ 14 SGB II-E
Die Regelung in § 14 SGB II-E erweitert den Beratungsanspruch der Leistungsbezieherinnen und –bezieher gegenüber dem Jobcenter. Der Beratungsanspruch soll sich künftig auch auf die Erläuterung der Leistungsberechnung beziehen. Die vorgesehene Stärkung des Beratungsanspruchs ist zu begrüßen. Aber nicht nur im Hinblick auf die Leistungsberechnung sollte die Beratung ausgeweitet werden: die qualifizierte Beratung behinderter arbeitsloser Menschen ist dringend auszubauen. Der SoVD fordert die flächendeckende Einrichtung qualifizierter Integrationsfachdienste die u.a. eine schnittstellenübergreifende Beratung schwerbehinderter Menschen durchführt, um diesem Personenkreis eine verbesserte Chance zur Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen.
Zu Artikel 1 Nr. 19
§ 22 SGB II-E
Mit § 22 SGB II-E werden verschiedene Regelungen zur Erstattung von Aufwendungen für Unterkunftskosten getroffen:
§ 22 Absatz 4 SGB II-E sieht vor, dass Umzüge in Wohnungen, deren Kosten unterhalb der Angemessenheitsgrenze liegen, generell zulässig sein sollen. Diese Regelung ist zu begrüßen; die Leistungsbezieher und –bezieherinnen müssen künftig nicht mehr das Einverständnis des Jobcenters einholen, bevor sie in eine Wohnung umziehen, deren Kosten sich im angemessenen Rahmen bewegt. Darüber hinaus wird das vereinfachte Verfahren zum Bürokratieabbau beitragen.
Auch das Vorhaben, Genossenschaftsanteile und Mietkautionen gleich zu behandeln (§ 22 Abs. 6 SGB II-E) ist ausdrücklich zu begrüßen.
Darüber hinaus sieht § 22 Abs. 10 SGB II-E die Bildung einer Gesamtangemessenheitsgrenze vor, anhand derer die Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beurteilt werden soll. Diese Regelung bedeutet eine Schlechterstellung der Leistungsbezieherinnen und –bezieher. Sie ist deutlich abzulehnen. Die tatsächlich anfallenden Heizkosten können nicht im Voraus bestimmt werden: Zum einen sind die Energiepreise nicht konstant, zum anderen sind die Heizkosten stark abhängig von den Außentemperaturen.
Der SoVD weist in diesem Zusammenhang hin auf das anhängige Bundesverfassungsgerichtsverfahren zum Fehlen einer konkreten Ausgestaltung des Anspruchs auf Gewährleistung des Existenzminimums für das Grundbedürfnis „Wohnen“. Als äußerst problematisch erscheint dem SoVD, dass die Verwaltung befugt ist, über die existentielle Frage der Angemessenheit der Unterkunftskosten zu entscheiden. In der Praxis wird die Bemessung von angemessenen Wohnungsgrößen und Mietobergrenzen viel zu restriktiv vorgenommen. Oftmals müssen die Leistungsberechtigten Teile ihrer tatsächlichen Wohnkosten aus dem Regelsatz bestreiten. Der SoVD fordert den Gesetzgeber auf, verbesserte und verlässlichere Regelungen zur Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft zu treffen.
Zu Artikel 1 Nr. 27 Buchstabe a) bb)
§ 34 SGB II-E
Die in § 34 SGB II-E formulierte Regelung erweitert den Tatbestand des „sozialwidrigen Verhaltens“, der bisher nur durch aktives Tun realisiert werden konnte, auf ein Erhöhen, Aufrechterhalten sowie nicht Verringern der Hilfebedürftigkeit. Damit werden die Möglichkeiten der Jobcenter ausgeweitet, Erstattungsansprüche gegenüber Leistungsbeziehenden geltend zu machen. Der SoVD lehnt diese Neuregelung ab; die Begriffe sind äußerst unbestimmt. Für die Betroffenen ist überhaupt nicht vorherzusehen, durch welches Verhalten sie mit einem Erstattungsanspruch konfrontiert werden können. Auch in der Begründung des Referentenentwurfs ist nicht ausgeführt, welches konkrete Verhalten unter die Begriffe Erhöhen, Aufrechterhalten sowie nicht Verringern der Hilfebedürftigkeit zu subsumieren ist.
Zu Artikel 1 Nr. 29
§ 34b SGB II-E
Mit der Neuregelung des § 34 b SGB II-E werden die Leistungsbeziehenden verpflichtet, Doppelleistungen, die aufgrund einer parallelen Leistungserbringung anderer Sozialleistungsträger parallel zum Jobcenter erfolgten, an das Jobcenter zurückzuzahlen. Diese Rückzahlungsverpflichtung ist aus Sicht des SoVD problematisch: Doppelleistungen verschiedener Sozialleistungsträger sind in den meisten Fällen auf komplexe Sachverhalte und Regelungen zurückzuführen, die für die Leistungsbeziehenden nicht nachvollziehbar sind. Die Leistungsbezieherinnen und –bezieher können grundsätzlich davon ausgehen, dass Zahlungen der Sozialleistungsträger aufgrund eines rechtmäßigen behördlichen Verfahrens erfolgt sind. Das Erstattungsrisiko bei Doppelleistungen denjenigen Personen aufzubürden, die lediglich über Mittel zur Sicherung des Existenzminimums verfügen, hält der SoVD für nicht sachgerecht. Der SoVD plädiert für eine Regelung, nach der die Jobcenter mit den jeweils anderen involvierten Sozialleistungsträgern eine Verrechnung vornehmen.
Zu Artikel 1 Nr. 36
§ 41 SGB II-E
Die in § 41 SGB II-E vorgesehene Verlängerung des Bewilligungszeitraums von sechs auf 12 Monate wird vom SoVD ausdrücklich begrüßt. Die Leistungsbeziehenden erhalten dadurch mehr Planungssicherheit. Die Behörden werden von aufwendigen Verfahren entlastet.
Zu Artikel 1 Nr. 37
§ 41a SGB II-E
Auch die Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung (Vorschuss) bei noch nicht feststehender Höhe der Hilfebedürftigkeit bewertet der SoVD als positiv. Auch wenn zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht sämtliche leistungserhebliche Tatsachen bekannt sind, ist – durch den Anspruch auf Vorschuss – der Lebensunterhalt des Bedürftigen gesichert.
Zu Artikel 1 Nr. 38
§ 42 SGB II-E
Die Unpfändbarkeitserklärung des § 42 SGB II-E ist überfällig. Da es sich bei den Grundsicherungsleistungen des SGB II um das Existenzminimum handelt, besteht ein besonderer Schutzbedarf. Selbstverständlich dürfen diese Leistungen nicht gepfändet werden.
Schlussbemerkung
Der SoVD bedauert, dass die Chance für eine Generalrevision des SGB II nicht genutzt wird. Entsprechende Vorschläge für eine umfassende Reform der Regelungen des SGB II hat der SoVD bereits im Jahr 2014 vorgestellt. Der SoVD appelliert eindringlich an die Bundesregierung, das gesamte Leistungssystem für langzeitarbeitslose Menschen sozial gerecht zu reformieren.
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik
Stellungnahmne: Rechtsvereinfachung im SGB II [173 KB]