Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)
Einschätzung des DBR – Deutscher Behindertenrat: Informationen und häufige Fragen zum Entwurf der 6. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)
A Allgemeines
B Zu einzelnen wichtigen Bereichen
1. Welche Gefahren drohen, wenn das „bestmögliche Behandlungsergebnis“ künftig unterstellt würde?
2. Welche Bedenken bestehen, Hilfsmittel künftig bei der Begutachtung generell zu berücksichtigen?
3. Was soll als „Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens“ in die GdB-Bemessung eingehen?
4. Drohen künftig mehr befristete GdB-Feststellungen?
5. Warum werden Krebspatienten künftig schlechter gestellt? Und was hat das mit der Heilungsbewährung nach neuem Recht zu tun?
6. Wird ein GdB von 10 oder 20 zukünftig bei der Gesamtbewertung berücksichtigt?
7. Werden bestehende GdB-Feststellungen wiederaufgerollt?
A Allgemeines
Die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) enthält wichtige Grundsätze für die ärztliche Begutachtung im Schwerbehindertenrecht und im Recht der Sozialen Entschädigung. Sie ist die Basis für die Anerkennung einer Behinderung bzw. Feststellung eines GdB.
7,8 Mio. Menschen in Deutschland sind schwerbehindert. Die VersMedV ist für sie von zentraler Bedeutung. Denn erst die GdB-Feststellung ermöglicht Zugang zu vielen Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen und stärkt so deren Teilhabe und Selbstbestimmung.
Die Überarbeitung der VersMedV mit der 6. Änderungsverordnung (im Folgenden: ÄndVO), insbesondere der „Gemeinsamen Grundsätze“, berührt (behinderten-) politische Grundsatzfragen, aber auch Fragen des Verwaltungsverfahrens und des Rechtschutzes.
Die Änderungen sind politisch gewollt und keinesfalls aus Gründen des medizinischen Fortschritts „überfällig“, wie zuweilen behauptet wird. Möglicherweise soll mit der Reform auch Verwaltungsaufwand reduziert werden.
Die Überarbeitung wurden von den Behindertenverbänden auch weder „wiederholt gefordert“ noch sind die beabsichtigten Änderungen in Teil A der ÄndVO zur Umsetzung eines modernen, ICF-orientierten Behinderungsbegriffs im geplanten Umfang erforderlich.
Der DBR befürwortet stattdessen eine differenzierende Umsetzung des ICF-Behinderungsbegriffs im deutschen Recht. Richtig ist dabei der Ansatz im Gesetzentwurf zur sozialen Teilhabe des Forums behinderter Juristinnen und Juristen. Bereits 2011 wurde dort in Umsetzung des ICF-Behinderungsbegriffs eine Stufung gefordert, die zwischen Beeinträchtigung einerseits und Behinderung andererseits unterscheidet.
Dieser Ansatz bleibt richtig. GdB-Feststellungen nach § 152 SGB IX können sich realistischer Weise nur auf Beeinträchtigungen beziehen und das Wechselverhältnis zwischen individueller körperlicher, seelischer und geistiger Verfasstheit und gesellschaftlichen Anforderungen und Kontextfaktoren im Allgemeinen abbilden. Es geht insoweit um eine technisch betrachtete Funktionseinschränkung bei durchschnittlicher Umgebung und Anforderungsstruktur.
Eine GdB-Bemessung wird hingegen keine Feststellung zu vorhandenen und bzw. erforderlichen Hilfsmitteln oder zu vorhandenen oder erforderlichen Assistenzleistungen für die Kompensation eines Funktionsverlusts treffen (können). Ebenso wenig trifft eine GdB-Bemessung Feststellungen zu vorhandenen bzw. abzubauenden Barrieren oder auch zu vorhandenen und zu verändernden Haltungen und Strukturen, um gleichberechtigte Teilhabe für behinderte Menschen zu ermöglichen.
Anders ist dies zu beurteilen, wenn es um individuelle Teilhabeleistungen (z.B. Assistenzbedarfe) geht. Denn dazu müssen umfassend die individuellen Teilhabeeinschränkungen ermittelt werden, die auch das Wechselverhältnis von funktionellen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Barrieren einbeziehen und die drei verschiedenen Ebenen der ICF – Schädigung, Aktivitätseinschränkung und Teilhabebeeinträchtigung – einzelfallbezogen berücksichtigen (umfassender Behinderungsbegriff). Für die abstrakte GdB-Feststellung aber sind diese komplexen Feststellungen weder notwendig noch sachgerecht.
Oder anders ausgedrückt: Ein GdB sagt nichts darüber aus, ob eine Person tatsächlich Zugang zu geeigneten Hilfsmitteln, zu Assistenzleistungen, zu barrierefreiem ÖPNV oder zu barrierefreiem Wohnen und Leben in der Gemeinde hat. Diese Kontextfaktoren müssen zwar zur Gewährung individueller Teilhabeleistungen ermittelt werden, aber für die GdB-Bemessung sind sie weder erforderlich noch sachgerecht Anderenfalls wäre die konsequente Folge, bei einer Doppeloberschenkelamputation einen geringeren GdB festzusetzen, wenn die Person barrierefrei wohnt. Zieht sie ins 5. OG eines Hauses ohne Aufzug, wäre der GdB zu erhöhen. Das kann weder gewollt sein, noch ist es in den hunderttausenden GdB-Feststellungsverfahren realistisch.
Der DBR befürwortet daher, die GdB-Bemessung am Begriff der individuellen Beeinträchtigung, der Bestandteil des ICF-Behinderungsbegriffes ist, auszurichten. Der Therapieaufwand kann bei diesem bereits berücksichtigt werden. Dies sichert einzelfallgerechte, aber auch handhabbare GdB-Feststellungsverfahren.¹
Es ist bedauerlich, dass diese Position der Verbände, die bereits seit 2014 öffentlich ist, nach wie vor nicht berücksichtigt wird.
Wenig überzeugend erscheint die Beteuerung des BMAS, die rechtlichen Änderungen trügen dazu bei, Beeinträchtigungen höher zu bewerten, wenn Funktionen heute von größerer Relevanz für die Teilhabe seien als früher; angeführt wird hier die Feinmotorik der Hände in der modernen Kommunikationsgesellschaft. Zugleich wird der Verlust eines Daumens und drei weiterer Langfinger statt mit GdB 50 nur noch mit GdB 40 bewertet, es fehlt die bisherige GdB 100-Regelung bei Verlust von 2 Händen bzw. bei Verlust aller 10 Finger und auch Teilverluste an beiden Händen werden nicht (mehr) ausdrücklich abgebildet.
Dies unterstreicht vielmehr die Befürchtungen der DBR-Verbände, mit der ÄndVO drohen umfangreiche Absenkungen von GdB. Sie lassen sich im Übrigen auch nicht mit dem „großen und rasanten Fortschritt in der Medizin“ begründen, den das BMAS als vermeintlichen Grund für die Änderungen anführt. Nicht der medizinische Fortschritt, sondern sozialrechtliche Wertungsentscheidungen (regelhafte Berücksichtigung von Hilfsmitteln und Gebrauchsgegenständen des Alltags bei bestmöglichem Behandlungsergebnis, Neuerungen bei der Heilungsbewährung, Befristungsmöglichkeiten, regelhafte Nichtberücksichtigung GdB 10 und 20, unzureichender Bestandsschutz) liegen der Reform zugrunde.
Abschließend noch ein Hinweis zum Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin beim BMAS, auf dessen Empfehlungen die geplanten Änderungen zurückgehen sollen. Der DBR kann nicht beurteilen, inwieweit die Änderungsvorschläge dort fortlaufend beraten wurden. Allerdings bleiben die Allgemeinen Grundsätze (Teil A) der ÄndVO maßgeblich in der politischen Verantwortung des BMAS. Denn diese berühren vorrangig sozialpolitische, rechtliche und Verfahrensfragen und weniger medizinische Fachfragen und Expertisen. Für den Diskussionsprozess mag hilfreich gewesen sein, dass im Beirat auch Ärzte aus der Versorgungsverwaltung der Länder mitarbeiten; zugleich erschwert dies aber auch unabhängiges Handeln. Ausdrücklich widersprechen muss der DBR dem Eindruck, sachkundige Vertreter aus Behindertenverbänden hätten an den Allgemeinen Grundsätzen (Teil A) der ÄndVO mitgewirkt. Sie kamen erst 2016, auf Druck der DBR-Verbände, in den Beirat und haben die Beratungen daher zeitlich nur noch in geringem Umfang begleiten können. Überdies haben sie auch kein Stimmrecht und sind zudem als persönliche Mitglieder, nicht als Verbändevertreter berufen. Aus ihrer Beteiligung kann nicht gefolgert werden, dass sie oder gar die Verbände die Ergebnisse der Beratungen in vollem Umfang mittragen.
Forsetzung siehe Pdf: DBR-Informationspapier zur 6. VersMedV-ÄndVO [342 KB]
¹ Dies bedeutet u.a., dass in Teil B darauf verzichtet werden muss, den GdB in Abhängigkeit von der Hilfsmittelversorgung zu beschreiben. Dies wäre nur die konsequente Anwendung des Abstraktionsprinzips, das in diesem Falle durchbrochen wäre. Wie bereits ausgeführt, müssten dann auch andere Kontextfaktoren berücksichtigt werden, was nicht beabsichtigt sein kann. Dem steht auch die Anwendung der ICF nicht entgegen: Diese ist im Rahmen des Abstraktionsprinzips anzuwenden, nicht aber bei der Bewertung der Umstände (Kontextfaktoren) im Einzelfall.