Medienstaatsvertrag Barrierefreiheit
Stellungnahme des Sozialverband Deutschland (SoVD) zum Vorschlag der Länderarbeitsgruppe für eine Novellierung des Medienstaatsvertrages im Hinblick auf Barrierefreiheit
Der SoVD begrüßt die Bereitschaft der Länder, die Novellierung des erst Anfang 2020 in geänderter Fassung beschlossenen Medienstaatsvertrages zu erwägen, um bessere Regelungen zur Barrierefreiheit im Bereich audiovisueller Medien zu schaffen. Dafür hatte sich der SoVD auf Bundes- und Länderebene eingesetzt.
Der SoVD unterstreicht seine Bereitschaft, sich in die Arbeit der zu diesem Zweck eingerichteten Arbeitsgruppe der Länder konstruktiv einzubringen. Ziel muss sein, möglichst zügig die notwendigen Veränderungen auf den Weg zu bringen. Vor diesem Hintergrund bewertet der SoVD die aktuell erwogenen Änderungsvorschläge wie folgt:
1 Begriffsbestimmung: Definition von Barrierefreiheit (§ 2 Abs. 2 Nr. 30 neu)
Ein Angebot soll nach § 2 Abs. 2 Nr. 30-neu dann ein barrierefreies Angebot sein, wenn es für Menschen mit Behinderungen in der für diese allgemein üblichen Weise nach dem jeweiligen Stand der Technik und unter Nutzung notwendiger Hilfsmittel ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich, auffindbar und nutzbar ist.
Bewertung des SoVD: Der SoVD unterstützt eine enge Ausrichtung Barrierefreiheitsbegriffs an § 4 BGG, da die Vorschrift sich bewährt hat. Die vorgeschlagene Norm zielt darauf und wird daher im Grundsatz begrüßt. Allerdings enthält sie drei Einengungen gegenüber § 4 BGG, die der SoVD kritisch sieht:
- Das Angebot darf nicht nur „in der für diese [Menschen mit Behinderungen] allgemein üblichen Weise“ zugänglich, auffindbar und nutzbar sein, sondern das Angebot muss „in der allgemein üblichen Weise“ zugänglich, auffindbar und nutzbar sein. Die letztere Formulierung gewährleistet, dass nicht Sonderlösungen, sondern reguläre Lösungen auch für Menschen mit Behinderungen angestrebt werden.
- Die Barrierefreiheit darf nicht „unter Nutzung notwendiger Hilfsmittel“ bemessen werden. Das würde die Sicherstellung von Barrierefreiheit teilweise von den Medienanbietern auf die Angebotsnutzer verschieben. Verfügt eine Person mit Behinderung nicht über das notwendige Hilfsmittel (z.B., weil es die Krankenkasse nicht gewährt), bliebe sie von Angeboten ausgeschlossen, welche die Anbieter aber gleichwohl als „barrierefrei“ bewerten könnten. Das Konzept der Barrierefreiheit darf nicht mit dem Konzept der (einzelfallbezogenen) angemessenen Vorkehrungen (§ 7 Abs. 2 BGG) vermischt werden. Daher ist die Einschränkung zu streichen.
- Barrierefreiheit soll nur „nach dem jeweiligen Stand der Technik“ sichergestellt werden. Technische Barrieren für die Ausstrahlung von barrierefreien Zugängen zu audiovisuellen Angeboten sind im Grunde nicht (mehr) vorhanden, wie die Praxis der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zeigt. Daher sollte diese Einschränkung entfallen.
An der Formulierung „zugänglich, auffindbar und nutzbar“ sollte festgehalten werden. Sie ist erforderlich, wie die Gesetzesmaterialien zu § 4 BGG zeigen.
Zugleich sollten die unterschiedlichen Dimensionen von Behinderungen entsprechend § 2 SGB IX aufgegriffen werden. Dies führt nicht zum Eindruck abschließender Aufzählung, wie die Begründung befürchtet, sondern schließt an die bewährte Formulierung des § 2 SGB IX an.
Konkret schlägt der SoVD folgende Formulierung vor:
„30. ein barrierefreies Angebot ist ein Angebot, das für Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen und Sinnesbehinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich, auffindbar und nutzbar ist.
2 Allgemeine Grundsätze: diskriminierungsfreie Inhalte (§ 3 neu)
Die Angebote öffentlicher Rundfunkanstalten wie auch bundesweit ausgerichteter privater Rundfunkanstalten sollen u.a. Diskriminierungen entgegenwirken.
Bewertung des SoVD: Das Ziel, mittels der Angebote Diskriminierungen entgegenzuwirken, teilt der SoVD sehr. Mitgetragen wird auch die Überlegung, die Gruppe der Menschen mit Behinderungen hier nicht explizit zu benennen, sondern dies in der Begründung zu tun. Dies verhindert den Umkehrschluss, dass andere benachteiligte Gruppen nicht erfasst sein könnten. Der SoVD hält es aber z.B. für ebenso wichtig, dass die Medien auch nichtdiskriminierende Altersbilder vermitteln. Die Norm könnte verpflichtender ausgestaltet werden. Der SoVD empfiehlt daher die Formulierung in § 3 Satz 2 2. Halbsatz
„sie wirken auch Diskriminierungen entgegen“.
3 Barrierefreiheit: Berücksichtigung unterschiedlicher Beeinträchtigungen (§ 7 Abs. 1 neu)
In Abs. 1 ist folgende Formulierung beabsichtigt: „Die Veranstalter nach § 3 Satz 1 sollen über ihr bereits bestehendes Engagement hinaus im Rahmen der technischen und ihrer finanziellen Möglichkeiten barrierefreie Angebote aufnehmen und den Umfang solcher Angebote stetig und schrittweise ausweiten, wobei den Belangen von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen Rechnung zu tragen ist.“
Bewertung des SoVD: Der geplante neue Halbsatz am Ende der Norm ist positiv, da er den Belangen von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen stärker Rechnung tragen soll. Im Sinne der Rechtssystematik und –einheitlichkeit sollte auch hier an die bewährte Formulierung des § 2 SGB IX angeknüpft werden (siehe oben).
Kritisch sieht der SoVD, dass die Norm nach wie vor die Einschränkung enthält, dass barrierefreie Angebote lediglich im Rahmen der technischen und finanziellen Möglichkeiten geschaffen werden sollen. Die Einschränkung würde zudem auf die unterschiedlichen Gruppen der Menschen mit Behinderungen „durchwirken“, was zusätzlich problematisch wäre. Der SoVD setzt sich für die Streichung des Passus‘ ein. Hinsichtlich der technischen Machbarkeiten gibt es keine Einschränkungen mehr (vgl. Ausführungen unter 1.) Zudem sollte es nicht allein in der Hand der Medienanbieter liegen, in welchem Umfang sie barrierefreie Angebote schaffen und dafür die entsprechenden finanziellen Mittel bereitstellen möchten. Um unbillige Härten und unverhältnismäßige Belastungen zu verhindern, wird eine Formulierung entsprechend § 7 Abs. 2 BGG vorgeschlagen. Der SoVD verschließt sich einem schrittweisen Vorgehen für private Rundfunkanbieter nicht, fordert jedoch für sie verbindliche Quoten, um zielgerichtet die barrierefreien Angebote zu erhöhen. Mit der Bemessung der Quoten sollten die Landesmedienanstalten als staatliche Regulierungs- und Aufsichtsinstanz betraut werden. Die Belange der Menschen mit Behinderungen sind einzubeziehen und durch entsprechende Beteiligungsformate einzubinden.
Der SoVD befürwortet konkret folgende Neuformulierung in § 7 Abs. 1:
Die Veranstalter nach § 3 Satz 1 sind verpflichtet über ihr bereits bestehendes Engagement hinaus barrierefreie Angebote zu schaffen, sofern sie dadurch nicht unbillig oder unverhältnismäßig belastet sind.
Den Belangen von Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbehinderungen ist Rechnung zu tragen.
Die Landesmedienanstalten setzen in Bezug auf die Veranstalter bundesweit ausgerichteter privater Fernsehprogramme regelmäßig alle 3 Jahre Quoten für den Anteil barrierefreier Angebote fest. Die Verbände behinderter Menschen sind vor der jeweiligen Entscheidung zu beteiligen.
4 Barrierefreiheit: Berücksichtigung unterschiedlicher Beeinträchtigungen (§ 7 Abs. 1 neu)
Neu geplant ist, dass Veranstalter privater Fernsehprogramme nicht nur über getroffene, sondern auch über zukünftige Maßnahmen zur Barrierefreiheit und zudem über die dabei erzielten Fortschritte berichten sollen.
Bewertung des SoVD: Zwar können Berichtspflichten helfen, Handlungsdruck zu erzeugen, insbesondere, wenn sie sich auf zukünftige Maßnahmen beziehen. Eine Garantie für strategisches und planvolles Umsetzen von Barrierefreiheit, wie dies Aktionspläne sichern, bieten Berichtspflichten jedoch nicht. Insofern plädiert der SoVD nach wie vor für eine Pflicht, Aktionspläne zur Barrierefreiheit aufzustellen.
5 Barrierefreie Gestaltung von Notfallinformationen (§ 7 Abs. 3 neu)
Geplant ist eine neue Bestimmung, wonach Verlautbarungen, die entsprechend den landesrechtlichen Bestimmungen über das Verlautbarungsrecht verbreitet werden, barrierefrei gestaltet werden sollen.
Bewertung des SoVD: Der SoVD zieht eine Ausgestaltung der Norm als „Muss-Vorschrift“ vor. Die Corona-Krise hat deutlich vor Augen geführt, wie wichtig barrierefreie Notfallinformationen sind. Der SoVD hält allerdings auch eine „Soll-Vorschrift“ für vertretbar, da dies „Müssen im Regelfall“ bedeutet, wie in der Begründung ausgeführt wird.
6 Ordnungswidrigkeitenrecht-Verstoß gegen Berichtspflicht (§ 115 Abs. 1 Nr. 1 neu)
Ordnungswidriges Handeln soll künftig dann vorliegen, wenn Medienanbieter ihrer Berichtspflicht nach § 7 Abs. 2 zu Maßnahmen zur Barrierefreiheit nicht nachkommen.
Bewertung des SoVD: Die Norm unterstreicht den Willen des Normgebers, auf Barrierefreiheit hinwirken zu wollen. Allerdings bezieht sich der Ordnungswidrigkeitstatbestand nur auf formale Berichtspflichten, nicht aber auf materielle Verbesserungen der Barrierefreiheit. Der Normgeber hofft, über die Berichtspflicht zu mehr Barrierefreiheit zu kommen. Leider zeigt die Diskussion um Frauenquoten in Aufsichtsräten, dass Erklärungspflichten kaum erfolgreich wirken: Nach wie vor scheut sich eine große Zahl von Unternehmen nicht, tatsächlich „0 % Frauen im Aufsichtsrat“ öffentlich als Zielgröße zu verkünden.
Der SoVD befürwortet daher, die Ordnungswidrigkeitsnorm auch auf die materiell-rechtliche Pflicht zur Barrierefreiheit nach § 7 Abs. 1-neu (siehe oben) zu erstrecken.
7 Großereignisse
Der SoVD vermisst eine Regelung, wonach Großereignisse bzw. Ereignisse von großer gesellschaftlicher Bedeutung zwingend barrierefrei ausgestrahlt werden müssen. Hier bietet sich folgender zusätzlicher Satz in § 7 Abs. 1 an.
„Großereignisse sind stets als barrierefreies Angebot auszugestalten.“
8 Konzept einer zentralen Stelle für Informationen und Beschwerden zur Barrierefreiheit in den Medien
Es soll eine zentrale Stelle für Informationen und Beschwerden zur Barrierefreiheit in den Medien geschaffen werden. Sie soll als Online-Anlaufstelle ausgestaltet und sowohl für den öffentlich-rechtlichen als auch für den privaten Medienanbieter zuständig sein.
Bewertung des SoVD: Die Schaffung einer zentralen Stelle für Informationen und Beschwerden zur Barrierefreiheit (im Folgenden: „zentrale Stelle“) ist richtig und notwendig. Sie wird von der europäischen Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (ABl. L 303 vom 28.11.2018, S. 69) gefordert. Der SoVD begrüßt die geplante einheitliche Zuständigkeit sowohl für öffentlich-rechtliche, als auch für private Medienanbieter. Die Ausgestaltung ausschließlich als Online-Angebot kann jedoch erhebliche Barrieren für Menschen begründen, die nicht über entsprechende Zugänge verfügen. Die Landesmedienanstalten wissen aus der von ihnen selbst veröffentlichten Studie 2017, dass einige Gruppen von Menschen mit Behinderungen das Internet deutlich weniger nutzen als die Gesamtbevölkerung; das betrifft insbesondere Menschen mit Lernbehinderungen. Für sie, wie auch für ältere Menschen, ist jedoch die Radio- und Fernsehnutzung besonders wichtig zur Teilhabe. Ihre Wünsche und Kritik sollten der zentralen Stelle ebenfalls zugehen können. Deshalb müssen Beschwerden von Beginn an auch auf analogem Wege möglich sein. Die Online-Angebote müssen darüber hinaus selbst konsequent barrierefrei sein.
Um Auffindbarkeit und Bekanntheit der zentralen Stelle zu unterstützen, sollten alle Medienanbieter in eigenen Publikationen und Onlineangeboten auf die Stelle hinweisen.
Der SoVD sieht sehr kritisch, dass sich die Arbeit der zentralen Stelle auf die Entgegennahme und Weiterleitung von Beschwerden („werden […] in keiner Form inhaltlich bearbeitet, gesammelt, gespeichert oder beantwortet“) beschränken soll. Dies wird der Erwartung an eine solche Stelle kaum gerecht. In der jetzt geplanten Form erscheint die zentrale Stelle eher als „Posteingangsfach“ im Dienste der Medienanbieter, nicht aber als Beschwerdestelle, die im Interesse der Mediennutzer aktiv werden kann.
Damit letzteres gewährleistet ist, sollte die Konzeption der Beschwerdestelle wie folgt ergänzt werden.
Die zentrale Stelle sollte
- zugunsten der einzelnen Beschwerdeführenden aktiv werden und ihnen Hilfeleistung geben können; z.B. durch Benennung konkreter Ansprechpartner*innen bei den Medienanbietern,
- gegenüber den Medienanbietern eigene Einschätzungen abgeben und diese ggf. auch transparent machen können, z.B. indem sie ungenügende Antworten der Medienanbieter an die Beschwerdeführenden rügt und letztere über weitergehende Rechtsschutzmöglichkeiten informiert,
- systematische Entwicklungen im Blick haben, z.B. indem sie Umfang und Inhalte der Beschwerden systematisch aufbereitet und so Handlungsbedarfe beschreibt.
Im Interesse einer transparenten und verbindlichen Arbeitsweise der zentralen Stelle sollte der Entwurf zudem einheitliche Fristen zur Beantwortung von Beschwerden vorsehen.
Nicht zuletzt befürwortet der SoVD, dass die zentrale Stelle fortlaufend aktualisierte Informationen der Medienanbieter zu erfolgten und geplanten Verbesserungen im Hinblick auf barrierefreie Angebote veröffentlicht. Dies stärkt die Informationsfunktion der Zentralen Stelle im Interesse der Mediennutzenden.
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik
SoVD-Stellungnahmne: Medienstaatsvertrag Barrierefreiheit [162 KB]