Altersarmut bekämpfen: Sozialpolitik mit Weitblick
Der Sozialwissenschaftler Professor Dr. Timm Kunstreich beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Problemen, die unsere Gesellschaft prägen und verändern. Er sieht den Kampf gegen Altersarmut als eine der größten Herausforderungen unserer Zeit und als eine der wichtigen Anforderungen an eine gute Sozialpolitik der Zukunft. Im Interview erklärt er, warum es aus seiner Sicht dringend geboten ist, die Angebote und Hilfen für ältere Menschen neu aufzustellen.
Warum ist es so wichtig, dass wir heute die Weichen für eine andere Seniorenpolitik in Hamburg stellen?
Timm Kunstreich: „Studien zur Entwicklung der Armut in der Gesamtbevölkerung und bei den über 65-Jährigen zeigen, dass sich die Zahl der alten Menschen im Vergleich zu den Jungen stark verändern und kontinuierlich schneller ansteigen wird. Diese Entwicklung wird allein in Hamburg nicht zu verhindern sein, aber sie kann deutlich gemildert, das heißt humaner gestaltet werden. Dazu müssen die vielen und verschiedenen Ansätze in der Stützung der Lebensverhältnisse alter Menschen aus ihrer Zersplitterung herausgeholt und systematisch gebündelt werden.
Gegen Einkommensarmut hilft nur höheres Einkommen. Hier könnte Hamburg dem Münchner Beispiel folgen und gut 20 Euro auf die Grundsicherung drauflegen – was vielleicht wenig klingt, aber für nicht wenige Menschen der wöchentliche Betrag für die Ernährung ist.
Wo der Hamburger Senat die Lebenssituation alter Menschen aber deutlich verbessern kann, ist bei den Investitionen in die altersgerechte Infrastruktur der Stadt. Denn diese wirken wie eine geldwerte Erhöhung des Einkommens: kostenfreies HVV-Ticket, kostenloser Zugang zu kulturellen und sportlichen Veranstaltungen oder Ähnliches würde eine spürbare Entlastung bringen.“
Wenn die Stadt die Signale nicht hört und das Problem verkennt, was erwartet arme Seniorinnen und Senioren in der Zukunft für ein Leben?
Timm Kunstreich: „Es würden sich die kritischen Lebenskonstellationen in den Lebenslagen alter Menschen verschärfen und es würden mehr alte Menschen in derartige Situationen geraten, weil Ressourcen unterschiedlicher Art fehlen.
Ist der Einkommens- und Versorgungspielraum so eingeschränkt, dass ein alter Mensch die eigene Wohnung nur dann verlässt, wenn er die nötigen Lebensmittel besorgen muss oder den Arzt aufsucht, dann sind automatisch auch die anderen Handlungsspielräume eingeschränkt. Der Kontakt- und Kooperationsspielraum ist dann durch zunehmende Isolation gekennzeichnet, der Lern- und Erfahrungs-Spielraum verengt sich noch weiter, der Regenerations- und Muße-Spielraum wird zur unerträglichen Langeweile und im Dispositionsspielraum gibt es kaum etwas, worüber eigenständig verfügt werden kann.“
Werden ältere Menschen in 20 Jahren noch die gleichen Einstellungen haben wie heute? Wie werden sie sich verändern?
Timm Kunstreich: „Die heutigen 40- bis 50-Jährigen werden dann zwischen 60 und 70 Jahre alt sein. Je nach Berechnung verdienen zwischen 30 und 50 Prozent dieser Altersgruppe heute so wenig, dass ihre Lebenslage als prekär bezeichnet werden muss. Wenn sich sozialpolitisch nichts ändert, wird die große Mehrzahl dieser Gruppe auf eine Art Grundsicherung angewiesen sein. Das entspricht einer radikalen Verarmung alter Menschen.
Wenn es dann – was wir hoffen – insbesondere in den armen Stadtvierteln entsprechende „QuartierAngebote“ geben wird, in denen mit Rat und Tat Entlastung und Unterstützung angeboten wird, in denen man sich mit anderen treffen kann, gemeinsam kulturelle und sportliche Veranstaltungen besuchen kann, oder auch nur zum Schnack und einer Tasse Kaffee vorbei kommen kann, dann wird der Alltag alter armer Menschen nicht nur mit mehr individuellen Handlungsspielräumen ausgestattet sein, sondern auch mit gemeinsamen, generationsübergreifenden Erlebnissen.“