Das neue Behindertengleichstellungsgesetz
Barrierefreiheit kommt voran, viele Hürden bleiben aber
Im Juli 2016 trat das neue Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Das Gesetz enthält Regelungen zur Barrierefreiheit. Es ist daher für Menschen mit Behinderungen besonders wichtig – denn Teilhabe gelingt nur, wenn Barrieren beseitigt sind oder aber schrittweise abgebaut werden.
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) trat erstmals 2002 in Kraft. Seither hat sich einiges im Bereich Barrierefreiheit getan: Viele Menschen kennen und nutzen zum Beispiel mittlerweile Niederflurbusse, Aufzüge und Blindenleitsysteme. Aber auch die Barrieren haben sich seit damals geändert: Das digitale Zeitalter verlangt neue Lösungsansätze. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat neue Rechtspflichten begründet. Schließlich fordern gesellschaftliche Veränderungen neue Antworten, besonders der demografische Wandel. Der SoVD hat sich daher seit Langem mit Nachdruck für eine Reform des BGG eingesetzt.
Das neue BGG bleibt allerdings enttäuschend. Das Gesetz regelt Barrierefreiheit vor allem für den öffentlichen Bereich. Hürden im Alltag der Menschen finden sich aber besonders in der Privatwirtschaft: Menschen mit Behinderungen stoßen zum Beispiel beim Geldabheben, beim Einkaufen, in Bus und Bahn, im Kino und beim Internetsurfen auf Barrieren. Das neue BGG spart diese wichtigen privatwirtschaftlichen Bereiche weitgehend aus.
Kleinere Verbesserungen im neuen Gesetz
Bundesverwaltung setzt sich mehr Barrierefreiheit zum Ziel
Das reformierte Gesetz hält die Bundesverwaltung in den Bereichen Bauen und Informationstechnik zu mehr Barrierefreiheit an. Verbindliche Fristen, bis zu denen alle Bauten barrierefrei sein müssen, fehlen aber. Stattdessen sind Berichtspflichten vorgesehen. Der SoVD kritisiert dies als unzureichend. Die Regelung bezieht sich zudem nur auf Gebäudebereiche mit Publikumsverkehr.
Schutz vor Benachteiligung leicht ausgeweitet
Ein Benachteiligungsverbot zugunsten behinderter Menschen war schon nach bisherigem Recht im BGG verankert. Ein neues Verbot von Belästigungen erweitert dieses jetzt. Das reformierte Gesetz stellt zudem klar, dass Benachteiligung auch dann vorliegt, wenn jemand eine wirtschaftlich zumutbare Anpassung für Barrierefreiheit verweigert, etwa eine mobile Rampe. Die Verbesserungen gelten leider jedoch nur für Träger öffentlicher Gewalt – die Privatwirtschaft bleibt ausgeklammert
Leichte Sprache erstmals anerkannt
Leichte Sprache hilft Menschen mit Lern- und sogenannten geistigen Behinderungen, Textinhalte besser zu verstehen. Das neue BGG erkennt Leichte Sprache erstmals gesetzlich an. Bundesbehörden sollen künftig mehr Information in Leichter Sprache bereitstellen und Bescheide ab 2018 in Leichter Sprache erläutern. Die neuen Regelungen gelten auch im Sozialverwaltungsverfahren und bei der Ausführung von Sozialleistungen.
Neue Institutionen unterstützen in der Praxis
Bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See wurde eine Bundesfachstelle Barrierefreiheit errichtet. Die Fachstelle soll Behörden und Verwaltungen, aber auch Wirtschaft, Verbände und Zivilgesellschaft zu Barrierefreiheit beraten und bei der Umsetzung unterstützen. Eine Schlichtungsstelle bei der Bundesbehindertenbeauftragten soll außerdem helfen, Streitigkeiten nach dem BGG künftig außergerichtlich beizulegen. Zudem wird ein Partizipationsfonds eingerichtet. Dieser soll Behindertenverbände dabei unterstützen, sich stärker an politischen Prozessen zu beteiligen.
Große Defizite bestehen fort
Privatwirtschaft weiter nicht verpflichtet
Das neue BGG spart die Privatwirtschaft fast vollständig aus. Auch das reformierte Gesetz verpflichtet die Wirtschaft nicht zur Barrierefreiheit. Das BGG geht damit am Alltag der Menschen weitgehend vorbei.
Barrieren beim Einkaufen, im Internet, beim Arztbesuch, in Kultur und Sport und im Verkehr schließen Menschen mit Behinderungen aus oder erschweren ihnen die Teilhabe. Das neue Gesetz ändert an bestehenden Barrieren in diesen Bereichen nichts. Es schließt nicht einmal aus, dass private Unternehmen neue Barrieren errichten, zum Beispiel durch nicht bedienbare Automaten oder nicht barrierefreie Internetangebote.
Der UN-Fachausschuss zur UN-Behindertenrechtskonvention hat gefordert, dass sich Deutschland umfassend zur Barrierefreiheit verpflichtet. Der Ausschuss hat eine Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Anbietern von Gütern und Dienstleistungen dabei abgelehnt: Für die Betroffenen macht es keinen Unterschied, ob die Stadt oder aber ein privater Träger zum Beispiel das örtliche Schwimmbad betreibt. Die Unterscheidung der Rechtsform darf daher nicht darüber entscheiden, ob Barrierefreiheit herzustellen ist oder nicht.
Neue Institutionen erfassen Privatwirtschaft kaum
Die vorgesehene Schlichtungsstelle kann nicht zu Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft angerufen werden. Die Chancen der Schlichtungsstelle, Barrierefreiheit im Alltag der Menschen tatsächlich zu verbessern, bleiben damit begrenzt.
Auch die Angebote der neuen Bundesfachstelle Barrierefreiheit zielen in erster Linie nicht auf die Privatwirtschaft. Zwar wurde diese auf Druck – auch des SoVD – noch ergänzend in den Aufgabenkatalog aufgenommen, doch die Beratung der Privatwirtschaft bleibt nachrangig: Vorrangig soll die Verwaltung zu Barrierefreiheit beraten werden.
Barrierefreiheit für Bundesbauten ohne Frist
Bundesbauten sollen barrierefrei werden und Berichte über die Fortschritte regelmäßig erfolgen. Eine verbindliche Frist, bis wann die volle Barrierefreiheit herzustellen ist, fehlt aber. Eine solche Frist ist dringend notwendig und dem Recht auch nicht fremd: Der Bundesgesetzgeber hat den öffentlichen Personennahverkehr zu voller Barrierefreiheit bis 2022 verpflichtet. Für die eigene Bundesverwaltung scheute er diese verbindliche Frist jedoch.
Verbandsklagen weiter nur beschränkt möglich
Der SoVD hatte sich für eine Ausweitung der Verbandsklagen ausgesprochen. Eine solche Klage sollte dazu dienen, nicht nur einen Verstoß gegen das BGG feststellen, sondern auch die Beseitigung der Barriere verlangen zu können. Der Gesetzgeber ist dem nicht gefolgt. Auch werden die Neuregelungen zur Leichten Sprache und zur Barrierefreiheit von Bundesbauten nicht verbandsklagefähig. Verbände können sie also nicht vor Gericht erstreiten.
Die Positionen des SoVD
- Das neue BGG bleibt enttäuschend. Zwar sind kleine Fortschritte anzuerkennen, doch das Gesetz wird umfassende Barrierefreiheit nicht schaffen. Denn die Privatwirtschaft bleibt ausgeklammert. Damit geht das Gesetz am Alltag der Menschen vorbei.
- Das Gesetz ist vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention und ihrem Anspruch nach voller, wirksamer und gleichberechtigter Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinde-rungen somit mehr als enttäuschend.
- Der SoVD wird weiter mit Nachdruck dafür streiten, dass Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen in Deutschland Alltag wird. Hierfür bedarf es auch entsprechender gesetzlicher Verpflichtungen. Der SoVD wird sich weiter politisch dafür einsetzen, diese zu schaffen.
Bei Einzelfragen zum neuen BGG hilft Ihnen Ihre SoVD-Beratungsstelle gern weiter. Hier erfahren Sie die Anschriften der SoVD-Landes- und Kreisverbände.