„Bildung in Deutschland 2014“
Der Bundesbildungsbericht: Eine umfassende Analyse zur Bildungssituation behinderter Menschen
Seit Mai 2014 liegt der Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2014 vor. Der bundesweite Bericht erscheint alle 2 Jahre. Doch erstmalig nimmt er die Bildungssituation von Menschen mit Behinderungen besonders ins Visier. Das ist ein gutes Signal für die inklusive Bildung in Deutschland. Der Bericht enthält wichtige Fakten und Erkenntnisse, macht aber auch Erkenntnislücken sichtbar.
Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in Deutschland seit 2009 in Kraft. Sie gibt Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ein Recht auf inklusive Bildung. Kinder mit und ohne Behinderungen haben das Recht, gemeinsam zu lernen. Hierfür müssen alle Regeleinrichtungen (Kitas, Regelschulen, Horte, Berufsschulen etc.) verändert werden. Sie müssen die individuellen Bedarfe aller Kinder und Jugendlichen berücksichtigen, hohe qualitative Bildungsangebote für Kinder mit und ohne Behinderungen gewährleisten und soziale Teilhabe sichern.
Deutschland kommt bei der inklusiven Bildung nur sehr langsam voran und hat noch immer erhebliche Defizite. Dies macht der Bildungsbericht 2014 deutlich.
Wo stehen wir bei der Integration?
Immer mehr Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen in Deutschland besuchen gemeinsam Kitas und Schulen. Die sog. Integrationsquote ist im europäischen Vergleich zwar noch immer niedrig, steigt jedoch an: Von 12 % im Jahr 2001 auf 28 % 2013. Doch je höher die Bildungsstufe, umso geringer die Integration: Während in der Kita die Integrationsquote bei zwei Drittel liegt, sinkt sie im Grundschulbereich auf 44 % und liegt im Sekundarbereich I bei nur noch 23 %. Mit jeder Bildungsstufe nimmt die Integration also erheblich ab.
Nach wie vor verfügt Deutschland über ein sehr breites Sonderschulsystem (auch Förderschulsystem genannt). Darauf verweist der Bundesbildungsbericht. Durchschnittlich ist jede 10. Schule in Deutschland eine Sonderschule. Nicht bekannt hingegen ist, an wie vielen Schulen in Deutschland integrativ unterrichtet wird. Bestandsaufnahmen liegen lediglich für die Ebene der Schulklassen vor: In etwa in jeder fünften Klasse lernt (mindestens) ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf; im Grundschulbereich sind es 31 % aller Klassen, im Sekundarbereich I noch 14 % und im Sekundarbereich II nur 7 %.
Wie ist die Situation der Kinder an Sonderschulen?
Wie gestaltet sich die Entwicklung von Sonderschulen?
Auch wenn die Integrationszahlen steigen: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die an Sonderschulen (sog. Förderschulen) lernen, ist nicht rückläufig sondern steigt ebenfalls an. 4,8 % aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland lernten 2012 an Sonderschulen, mithin 355.000 Kinder. Auch der Bundesbildungsbericht kritisiert: „dass es in den meisten Ländern trotz Zunahme der integrativen Beschulung nicht zu einem nennenswerten Rückgang der Förderschulbesuchsquote gekommen ist“. Zur Begründung weist der Bericht auf eine immer stärker steigende Zahl von Kindern, denen sonderpädagogischer Förderbedarf bescheinigt wird.
Wer lernt an der Sonderschule?
An Sonderschulen sind Jungen überproportional vertreten, ebenso Schülerinnen und Schüler mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Zudem konstatiert der Bericht „große Unterschiede[…] mit Blick auf die sozioökonomische Lage von Schülerinnen und Schülern an Sonderschulen“ und verweist auf den großen Anteil, deren Eltern un- oder angelernte Arbeiter seien.
Wie sind die Bildungsabschlüsse/-erfolge an Sonderschulen?
Fast drei Viertel der Abgänger aus Sonderschulen verlässt die Schule ohne anerkannten Schulabschluss. Der Bericht weist darauf hin: „dass an Förderschulen mit Schwerpunkt Lernen in manchen Ländern die Erteilung eines Hauptschulabschlusses […gar] nicht vorgesehen“ sei, beim Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ bestünde gar in keinem Land diese Möglichkeit. “Insofern wird mit der Zuweisung zum jeweiligen Förderschwerpunkt und –ort auch eine Prognose […] ausgesprochen, welchen Schulabschluss das Kind später erreichen kann“, kritisiert der Bericht.
Zudem weist der Bundesbildungsbericht auf erste Studien hin, die die Bildungsfortschritte von Viertklässlern mit Förderbedarf in integrativen Klassen und an Sonderschulen verglichen haben. Diese konstatieren bei Sonderschülern Leistungsrückstände von einem halben Jahr in Mathematik, einem halben Jahr im Lesen und fast einem Jahr im Zuhören; auf weiteren Forschungsbedarf wird hingewiesen.
Aus Sicht des SoVD reicht es in der Inklusionsdebatte nicht, den Blick auf die Integration zu richten, man muss auch die Situation an Sonderschulen verstärkt in den Blick rücken. Die Inklusionsdebatte darf an den Kindern in Sonderschulen nicht länger vorbeigehen.
Wie entwickeln sich die finanziellen Rahmenbedingungen im Schulsystem?
Der Bundesbildungsbericht weist auf starke Ausgabenanstiege im Sonderschulbereich in den letzten Jahren hin. Je Schüler wurde an Sonderschulen 2012 über 15.700 € aufgewandt, im Jahr 2005 waren es 12.000 € (zum Vergleich ein Platz in einer Regelschule wird mit 6.500 € bemessen).
Insgesamt schätzt der Bundesbildungsbericht die Gesamtkosten im Sonderschulbereich auf 5,9 Mrd. €. Bedauerlicherweise kann der Bericht keinerlei Aussagen über jene Gesamtkosten treffen, die für die integrativ beschulten Kinder mit Behinderungen aufgewandt wurden. So heißt es im Bundesbildungsbericht unter der Überschrift „Tatsächlicher Umfang aller für die Bildung von Menschen mit Behinderungen aufgewendeten Ressourcen schwer einschätzbar: „Zunehmend gilt dies auch für diejenigen Ausgaben, die für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf entstehen, wenn diese gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet werden.“ (S. 194). Ernüchtert bilanziert der Bericht: [Es liegen schlicht] „keine Daten zu den Ausgaben für die knapp 138.000 Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf […vor], die außerhalb von Förderschulen integrativ unterrichtet werden. (S. 196)
Der SoVD kritisiert: Durch die fehlenden Vergleichszahlen sind derzeit Ressourcenvergleiche kaum möglich. Unmöglich wird so auch eine Diskussion zugunsten qualitativ hochwertiger inklusiver Bildungssettings. Hier besteht dringender Forschungsbedarf und ein Transparenzerfordernis.
Wie ist die Lage der Lehrerinnen und Lehrer?
Sonderpädagogen arbeiten in Deutschland noch immer zum ganz überwiegenden Teil an Sonderschulen: Derzeit sind dort 48.000 von ihnen beschäftigt, an den Regelschulen dagegen sind es lediglich 8.600 (d. h. 16 %). Im Vergleich zu den 28 % der behinderten Kinder, die inzwischen an Regelschulen lernen, wird das große Defizit an sonderpädagogischer Begleitung an Regelschulen deutlich. Auch der Bundesbildungsbericht beklagt: [Bei der sonderpädagogischen Professionalisierung] besteht allerdings noch erheblicher Nachholbedarf“.
Zugleich verweist er darauf, dass über 68 % der Grundschulehrkräfte Fortbildungsbedarf zur Integration/Inklusion artikulierten, lediglich 9,5 % erhielten eine solche. Bei den Gymnasiallehrern haben sich gar nur 1,7 % in dieser Richtung fortgebildet.
Der SoVD kritisiert die ganz erheblichen Defizite im Personalbereich in inklusiven Lernsetting. Dies ist nicht hinnehmbar, gerade wenn man sich bewusst macht, von welch hoher Bedeutung das unterstützende Personal für Lernerfolge von Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen ist.
Wie steht es um die Barrierefreiheit in Regeleinrichtungen?
Barrierefreiheit ist eine zentrale Voraussetzung, damit inklusive Bildung überhaupt möglich wird. Zwar weist der Bundesbildungsbericht 2014 auf die Bedeutung umfassender Barrierefreiheit, die weit über bauliche Ansätze hinausgehen müsse, hin. Der Bericht liefert jedoch keine substantiellen Daten hierzu. Stattdessen heißt es dort kurz und ernüchternd: „[…] die Kosten einer behindertengerechten Ausstattung von Gebäuden, die als allgemeine Baukosten ausgewiesen werden, lassen sich nicht gesondert ausweisen.“
Aus Sicht des SoVD besteht hier dringender Handlungsbedarf! Oft wird bauliche Barrierefreiheit mit Verweis auf fehlende Ressourcen verweigert. Um hier endlich spürbar zu systematischen Verbesserungen zu kommen, ist der Bedarf an barrierefreien Umbau von Bildungseinrichtungen zu erheben und dann systematisch abzuarbeiten.
Wie ist die Ausbildungslage für Jugendliche mit Behinderungen?
Menschen mit Behinderungen haben die Möglichkeiten einer regulären Berufsausbildung sowie einer (theoriereduzierten) besonderen Ausbildung in einem sog. „Helferberuf“.
Bedauerlicherweise weist die Berufsbildungsstatistik die Kategorie „Menschen mit Behinderungen“ nicht aus. Deshalb wird diese Personengruppe bei den Zahlen der Ausbildungsanfänger und Neuzugängen in Berufsausbildungen im dualen System nicht extra ausgewiesen. Ersatzweise könnten daher, so der Bundesbildungsbericht, nur die Förderzahlen der Bundesagentur (BA) herangezogen werden. Nach der Beschäftigungsstatistik der BA (Anzeigeverfahren) meldeten die Arbeitgeber 2014 6.500 schwerbehinderte Auszubildende.
Die Zahlen in den sog. „Helferberufen“ sind hingegen transparent: 2012 wurden dort etwas mehr als 10.000 Ausbildungsverträge abgeschlossen (entspricht 1,9 % aller Ausbildungsverträge), fast 60 % dieser Ausbildungsverträge gingen an Jugendliche mit Hauptschulabschluss.
„Der überwiegende Teil der Fördermittel [der Bundesagentur für Arbeit] wurde für die Aus- und Weiterbildung von Menschen mit Behinderungen in Berufsbildungswerken, Werkstätten für Behinderte Berufsförderungswerken und dergleichen aufgewendet“, betont der Bericht und weist auf die rückläufigen Tendenzen in den letzten Jahren hin. 2012 wurden 43.000 Personen in der beruflichen Ersteingliederung als Rehabilitanden der Bundesagentur für Arbeit anerkannt.
Wo liegen zukünftige Herausforderungen?
Der Bundesbildungsbericht selbst sieht an zahlreichen Stellen Handlungs- und Entwicklungsbedarf. Bei der Professionalisierung der Fachkräfte sieht er großen Handlungsbedarf. Überdies identifiziert er in der (in den Ländern und im Zeitverlauf sehr unterschiedlichen) Diagnostik zur Ermittlung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs eine „große Herausforderung“. Die Bildungsübergänge sollten flexibler gestaltet werden und, so der Bericht, besonders in den Focus rücken, da die Inklusionsquote mit zunehmenden Bildungsstufen ganz erheblich abnimmt. Nicht zuletzt beklagt der Bericht, dass die gegenwärtige Ressourcenverteilung im Bildungssystem nicht transparent darstellbar ist und fordert, die Ressourcenzuweisungen in den Focus weiterer Arbeiten zu rücken.
Bewertung des SoVD: Der Bundesbildungsbericht legt die erheblichen Defizite in Bezug auf inklusive Bildung deutschen Bildungssystem aus Sicht von Menschen mit Behinderungen offen. Er zeigt, wo strukturelle Defizite bestehen, wo personelle Entwicklungen angegangen werden müssen, wo Ressourcenfragen neu austariert werden müssen. Zugleich zweigt er, in welch großem Umfang Wissen- und Forschungsdefizite bestehen.
Bund und Länder müssen jetzt endlich die ihnen gestellten Hausaufgaben machen. Es wäre gut, in zwei Jahren eine Hausaufgabenkontrolle anzuschließen. Nur so kann gewährleistet werden, dass das Recht auf inklusive Bildung nicht nur auf dem Papier der UN-Behindertenrechtskonvention steht, sondern auch im Alltag der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen umgesetzt wird. Eine Qualitätsdebatte ist hierbei unerlässlich.
Bei Einzelfragen wenden Sie sich bitte an Ihre SoVD-Beratungsstelle. Die Anschriften der SoVD-Landes- und Kreisverbände erfahren Sie auch auf unserer Internetseite unter www.sovd.de.