Die kommende Bundestagswahl wirft schon jetzt ihre Schatten voraus. Die SPD entdeckt ihr soziales Gewissen neu und beklagt besonders eine mangelnde Gerechtigkeit in Deutschland, die Union propagiert Vollbeschäftigung. Ist das realistisch oder doch wieder nur Wahlkampfgetöse?
Klaus Wicher: „Es ist doch klar, dass sich jede Partei im Vorfeld von Wahlen an ihren Erfolgen messen lassen will. Deshalb begrüße ich es sehr, dass soziale Themen wieder verstärkt in den Vordergrund gestellt werden. Lange Zeit haben wir darauf gewartet, dass die SPD wieder zu ihren Wurzeln zurückfindet und deswegen begrüßen wir zunächst ihre Vorschläge, auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind. Es sind gute Diskussionsgrundlagen.
Ob wir Vollbeschäftigung erreichen, wird von der weiteren Konjunkturentwicklung abhängen und da zeichnen sich eher dunkle Wolken am Horizont ab. Im Mittelpunkt müssen jetzt die Menschen stehen, die auf dem Arbeitsmarkt abgehängt und zum Teil schon sehr lange arbeitslos sind. Mit dem Teilhabechancengesetz gibt es hier einen Vorschlag der Bundesregierung, den wir konstruktiv begleiten.“
Stichwort Gerechtigkeit: Sind unsere Löhne der Arbeit angemessen, die gemacht werden muss?
Wicher: „Letztendlich geht es darum, dass Menschen mindestens ein auskömmliches Einkommen haben, um für sich und die Familie gut zu sorgen und an der Gesellschaft teilhaben zu können. In den Ballungszentren muss man sich die Miete leisten können, ohne dass ein Großteil des Einkommens dafür draufgeht. Theater- und Kinobesuche sollten genauso drin sein wie Sportaktivitäten oder die Teilnahme am Musikunterricht für die Kinder. Der heutige Lohnunterschied zwischen einem Topmanager und einem Angestellten ist um ein Vielfaches höher als früher. Da ist es doch klar, dass dies viele Menschen als nicht mehr gerecht empfinden. Soviel mehr kann ein einzelner Mensch ja auch nicht leisten!
Wir setzen uns ein für einen Mindestlohn von 12 Euro. Mit aktuell 9,19 Euro und 9,35 Euro im kommenden Jahr liegt Deutschland, eines der reichsten Länder in Europa, hier im Vergleich ganz weit hinten. Er bleibt damit weiterhin niedriger als in den westeuropäischen Eurostaaten, in denen die Untergrenze bei 9,66 Euro und darüber liegt. Frankreich hat gerade die zehn Euro Marke geknackt, in Luxemburg lag die Untergrenze bei 11,97 Euro!“
Die Parteien werben mit Steuersenkungen. Gut so?
Wicher: „Es gibt sicherlich Anliegen, denen man sich nicht verschließen darf. Wir sollten die sogenannte kalte Progression abbauen, damit man nicht bei gleichbleibenden Realeinkommen in die steuererhöhende Steuerprogression hineinwächst. Ebenso sollte der Mittelstand steuerlich entlastet werden.
Auf der anderen Seite stehen wir vor immensen Herausforderungen, insbesondere der soziale Wohnungsbau muss viel stärker als bisher vorangebracht werden. Dies gilt auch für viele Infrastrukturvorhaben: Schulneubau und -sanierung, Straßen- und Schienenausbau der Bahn, Ausbau der Digitalisierung, Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West, Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit, Chancenverbesserung für Kinder und Jugendliche, Bekämpfung der ansteigenden Altersarmut und der weitere Aufbau der sozialen Infrastruktur.
Hervorheben möchte ich, dass wir vor allem mehr Mittel benötigen werden, um Armut insgesamt erfolgreich zu bekämpfen. Gerade deswegen ist es erforderlich, bei denen, die vergleichsweise viel verdienen, höhere Steuern zu erheben, damit diese Gruppe mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens beiträgt. Angesichts der auseinanderklaffenden Schere bei den Einkommen und Vermögen wäre das nicht nur gerecht, sondern auch möglich. Diese Steuererhöhungen sind notwendig, sie können und müssen jetzt angegangen werden!“
In der Diskussion ist erneut die Bemessungsgrundlage bei der sogenannten Reichensteuer.
Wicher: „Derzeit gilt, dass die Einkünfte, die den Betrag von 265.327 EUR übersteigenden, mit einem Zuschlag von drei Prozent besteuert werden. Erhöht man den Steuersatz beispielsweise um zwei Prozent, werden bei einem Einkommen von 300.000 Euro im Jahr nunmehr fünf Prozent von 34.673 Euro versteuert. An dem Beispiel wird sehr deutlich, dass das für den Einzelnen ein erträglicher Betrag ist. Es ist sinnvoll, sowohl den Spitzensteuersatz von 42 Prozent als auch die Reichensteuer anzuheben.“
Herr Wicher, gibt es in Deutschland ein Problem mit Altersarmut?
Wicher: „Altersarmut ist bei uns leider immer noch ein Thema. Heute sind bereits von den über 65-Jährigen 16,3 Prozent beziehungsweise rund 2,9 Millionen Menschen armutsgefährdet. Die immer wieder ins Spiel gebrachten 3,1 Prozent Grundsicherungsempfänger vermitteln ein falsches Bild. In Hamburg sind das übrigens schon 7,3 Prozent. Viele, die heute in Altersarmut leben, können auf eine lange Arbeitsbiografie zurückblicken und haben trotzdem eine Rente, die nicht reicht. Vor allem Frauen sind davon betroffen, denn sie haben Kinder erzogen, Angehörige gepflegt und deshalb oft in Teilzeit oder Minijobs gearbeitet. So lange der Partner lebt, können Sie sich über Wasser halten. Was aber, wenn eine Scheidung oder der Tod des Partners dieses Konstrukt zerstört?
Hinzu kommt die große Welle von Menschen, die bis 2030 in Rente geht. Wir brauchen dringend eine funktionierende Reform des Arbeits- und Rentenrechts, um hier entgegensteuern zu können. Der SoVD fordert eine Rente nach Mindestentgeltpunkten und Freigrenzen in der Grundsicherung für Ansprüche aus der gesetzlichen Rente. Die Einführung dieser beiden Forderungen würde wirksam gegen Altersarmut helfen und zudem eine gerechte Lösung darstellen.“
Müssten dann alle bis 70 arbeiten?
Wicher: „Das ist ja heute schon möglich, wer länger arbeiten möchte, kann das auch. In der Rentenformel ist zudem ein Demografiefaktor eingebaut, der rentenmindernd wirkt, wenn sich das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen verschlechtert. Im Augenblick wirkt er rentenerhöhend. Wege die man beschreiten könnte, wären zum einen, mehr Langzeitarbeitslose in eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit zu bringen und mehr qualifizierte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zuzulassen.“
Vielleicht sollten einfach jetzt schon mehr Menschen in die Rente einzahlen – auch Selbstständige.
Wicher: „Es wäre der richtige Weg, eine Erwerbstätigenversicherung einzuführen, in die alle einzahlen, auch Vermögende oder durch Beiträge aus Vermietung und Verpachtung. Das wird vom SoVD schon seit langem gefordert. In Österreich funktioniert das schon sehr gut und die deutlich höheren Renten zeigen, dass sich dieser Weg bewährt.“