1 Wissenswertes zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung der Menschen mit Behinderung
2022 gibt es einen „runden Geburtstag“: Zum 30. Mal finden am 5. Mai bundesweit Aktionen zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen statt. Sein Ziel ist, mehr Aufmerksamkeit auf ihre Anliegen zu lenken. Die Kluft zwischen den gesetzlich verbrieften Rechten und der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen soll überwunden werden.
Rund um den 5. Mai organisieren Verbände und Organisationen jedes Jahr viele Veranstaltungen, Demonstrationen und Aktionen. Die Aktion Mensch bündelt und unterstützt dieses Engagement: mit Ideen, Finanzförderung und Aktionspaketen. In diesem Jahr lautet das Motto zum 5. Mai: „Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel“. Mehr Informationen gibt es unter: https://www.aktion-mensch.de/was-du-tun-kannst/aktionstag-5-mai.
2 Erkämpfte Meilensteine in der Behindertenpolitik
- Der 1917 gegründete Reichsbund gibt 700.000 Kriegsversehrten sowie Hinterbliebenen von 2 Mio. Kriegsgefallenen eine Stimme. 1919 erhalten sie soziale Fürsorgeansprüche sowie Beschäftigungsschutzrechte. 1919/20 werden ihre Versorgungsansprüche deutlich verbessert.
- Seit dem Schwerbehindertengesetz 1974 wird bei behinderungsbezogenen Ansprüchen nicht länger nach der Ursache der Behinderung unterschieden. Die finale Betrachtung wird zugunsten der kausalen Betrachtung aufgegeben – eine zentrale Forderung des Reichsbundes.
- Seit 1994 bestimmt Art. 3 Abs. 3 S. 2 des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
- Das 2001 beschlossene SGB IX ordnet das Schwerbehinderten- und Rehabilitationsrecht ins Sozialgesetzbuch ein und bündelt das Recht aller Rehaträger:innen.
- Das 2002 verabschiedete Behindertengleichstellungsgesetz fordert u.a. Barrierefreiheit im Bau- und Verkehrsbereich, begründet das Recht auf Gebärdensprache und verbietet Benachteiligungen durch öffentliche Träger.
- 2006 tritt das Antidiskriminierungsgesetz (AGG) in Kraft. Es verbietet Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen im privaten Rechtsverkehr, z.B. bei der Arbeit oder im Versicherungsbereich.
- Die UN-Behindertenrechtskonvention tritt 2009 in Deutschland in Kraft. Sie konkretisiert die allgemeinen Menschenrechte aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen.
- Das 2016 beschlossene Bundesteilhabegesetz löst die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe ab und verankert sie im SGB IX. Betroffene müssen jetzt weniger eigenes Einkommen und Vermögen für behinderungsbedingte Leistungen einsetzen. Das BTHG fordert individuellere Bedarfsermittlungen, schärft das Reha-Verfahrensrecht, regelt das Leistungsrecht neu u.v.a.m. Es tritt gestuft in Kraft.
- 2021 beschließt der Bundestag das Barrierefreiheits- und das Teilhabestärkungsgesetz. Mit ihnen werden – in begrenztem Maße – private Anbieter verpflichtet, etwa wenn es um den Zugang von Assistenzhunden zu Praxen und Geschäften oder die barrierefreie Gestaltung von Selbstbedienungsterminals geht.
3 Daten und Fakten zur Lage behinderter Menschen
- 7,9 Mio. Menschen in Deutschland haben eine anerkannte Schwerbehinderung. Das sind 9,5 Prozent der Bevölkerung hierzulande. Über die Hälfte von ihnen sind über 65 Jahre alt. Sie alle haben ein Recht auf Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe. Doch in der Realität kämpfen sie mit vielen Erschwernissen, Benachteiligungen und Barrieren – trotz der vielen gesetzlichen Verbesserungen, die der SoVD erkämpft hat.
Drei Beispiele:
- Menschen mit Behinderung sind am Arbeitsmarkt benachteiligt. Vor Corona (2018) lag ihre Arbeitslosenquote mit 11 Prozent deutlich über der allgemeinen Quote von 6,5 Prozent. Corona hat die Lage weiter verschlechtert: 2020 stieg die Zahl schwerbehinderter Arbeitsloser zum Vorjahr um 9,7 Prozent. Zugleich verweigern ¾ aller Unternehmen in Deutschland ihre Pflicht, ausreichend schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen.
- Nur 1,5 Prozent der Wohnungen in Deutschland sind altersgerecht, das heißt arm an Barrieren. Aktuell fehlen damit etwa 2,5 Mio. barrierefreie Wohnungen. Und der Bedarf wird künftig aufgrund des demografischen Wandels weiter steigen.
- Die Mehrheit der behinderten Kinder besucht noch immer Sonderschulen. Zwar stieg der Anteil behinderter Kinder, die an Regelschulen lernen, auf 45 Prozent (Stand 2020). Doch die Zahl der Kinder an Förderschulen bleibt hoch – 328.000 waren es 2020; Tendenz steigend. Denn immer mehr Kindern wird sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert. Die Debatte um Inklusion geht also an vielen Förderschulen vorbei. Zudem bleiben über 70 Prozent der dortigen Schüler:innen ohne anerkannten Schulabschluss.
4 Forderungen des SoVD zur Arbeitsmarktteilhabe
- Behinderte Menschen durch aktive Arbeitsmarktpolitik unterstützen, Fokus auf ältere und langzeitarbeitslose behinderte Menschen richten, Zugang zu hochwertiger Rehabilitation sichern,
- Verantwortung der Arbeitgeber:innen zur Beschäftigung politisch einfordern und durchsetzen, aber auch organisatorisch und finanziell unterstützen,
- Beschäftigungspflichtquote für Unternehmen bedarfsgerecht auf mindestens 6 Prozent anheben,
- Zusätzliche Beträge der Ausgleichsabgabe für Unternehmen verdoppeln und für Betriebe mit 0 Prozent schwerbehinderten Beschäftigten auf 750 Euro festsetzen,
- Betriebliche Ausbildungsmöglichkeiten für junge behinderte Menschen verbessern.
5 Forderungen des SoVD zur inklusiven Bildung
- Behinderte Kinder haben ein „Recht auf Regelschule“. Dieses Zugangsrecht muss im Gesetz verankert und in der Praxis verwirklicht werden.
- Inklusive Bildungsangebote müssen von hoher Qualität sein. Dafür braucht es verbindliche Qualitätsstandards und regelmäßige Fortbildung für Fachkräfte. Der SoVD fordert kontinuierliche Entwicklungsprozesse an Schulen und strikte Barrierefreiheit. Inklusive Bildung darf nicht zum Sparmodell verkommen.
- Bund, Länder, Kommunen und Rehabilitationsträger müssen gemeinsam für inklusive Bildung aktiv werden. Dazu ist das strikte Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern zu lockern.
6 Forderungen des SoVD zur Barrierefreiheit
- Die Privatwirtschaft ist zügig per Gesetz zur Umsetzung von Barrierefreiheit zu verpflichten. Dabei ist ein schrittweises Vorgehen denkbar, aber auch konsequent einzufordern. Barrierefreiheit braucht es nicht nur beim Wohnen, sondern auch in der Mobilität, bei der medizinischen Versorgung, beim Einkauf, in Sport und Kultur.
- Die finanziellen Unterstützungsmöglichkeiten sollten ausgeweitet werden. Öffentliche Gelder sollten aber auch strikt an das Kriterium der Barrierefreiheit gebunden werden.
- Die Verbände der Menschen mit Behinderungen sind an allen Planungen konsequent zu beteiligen.