Zwar zählt das Vergaberecht nicht zu den originären satzungsgemäßen Aufgaben des SoVD. Gleichwohl bestehen zwischen Vergaberecht und Sozialrecht vielfältige Wechselwirkungen: Das Vergaberecht ist geeignet, das Sozialrecht in der Praxis zu prägen und zu überformen, es struk-turiert sozialrechtliche Leistungsgestaltungen, vermag strukturelle Anreize bzw. Fehlanreize zu setzen u. v. a. m. Daher müssen sozialpolitische Fragestellungen auch im Rahmen des Vergabe-rechts zwingend mitgedacht werden.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Modernisierung des Vergaberechts legt der SoVD daher seine sozialpolitischen Eckpunkte für eine Reform des Vergaberechts vor.
Einhaltung von sozialpolitisch wichtigen, gesetzlichen Verpflichtungen im Vergabe-recht verankern und einfordern
Sozialpolitisch wichtige Entscheidungen des Gesetzgebers können und müssen - auch - mittels des Vergaberechts in die sozialpolitische Praxis umgesetzt werden. Diese müssen in allen Berei-chen des Vergaberechts (Leistungsbeschreibung, Zuschlagskriterium, Ausführungsbestimmun-gen, Bietereignung, Ausschließungsgründe) konsequent eingefordert und überprüft werden. Dies befördert die Umsetzung in der Praxis. Zugleich bietet dies die Gewähr, dass das Vergaberecht sozialen Standards bzw. sozialpolitischen Entscheidungen des Gesetzgebers nicht zuwiderläuft bzw. diese in der Praxis aushebelt.
Konkret fordert der SoVD u. a. vergaberechtliche Entscheidungen an die Erfüllung der Beschäfti-gungspflichtquote zu binden, die Unternehmen zur Beschäftigung schwerbehinderter Arbeitneh-mer verpflichtet. Gleiches gilt für die Einhaltung anderer sozial- und arbeitsrechtlicher Standards und Verpflichtungen. Hierzu zählt z. B. die Zahlung tariflicher Löhne bzw. des Mindestlohns oder die Erfüllung der Frauenquote in Aufsichtsräten.
Innerbetriebliche Maßnahmen der Frauenförderung sollten bei vergaberechtlichen Entscheidungen zusätzlich privilegierend berücksichtigt werden. Hierzu zählen die Bereitstellung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten, flexible Arbeitszeiten und insbesondere die gleiche Entlohnung von Frauen und Männern.
Vergaberecht muss gute Arbeitsbedingungen gewährleisten
Das Vergaberecht sollte ferner zum Ziel haben, Lohndumping oder das Unterlaufen sozialrechtlicher Standards (wie tarifliche Entlohnung, Vorherrschen von sozialversicherungspflichtiger, regulärer Beschäftigung, keine Schwarzarbeit) zu verhindern. Eine Auftragsvergabe, die an derartigen Kriterien ausgerichtet ist, kann gleichzeitig dazu beitragen, Armut zu bekämpfen und die Sozialversicherungen durch höhere Beitragseinnahmen zu stärken. Ein weiterer wichtiger Effekt wäre die Einsparung von sozialstaatlichen Transferleistungen durch höhere Lohnzahlungen der beauftragten Unternehmen.
Es ist explizit sicherzustellen, dass die tarifliche Entlohnung als wirtschaftlich im Sinne des Vergaberechts anzusehen ist.
Barrierefreiheit über das Vergaberecht befördern
Die Barrierefreiheit von Gütern und Dienstleistungen ist zentral, damit behinderte Menschen glei-che Teilhabemöglichkeiten erhalten. Transportleistungen, Bildungsangebote, die Gestaltung von Websites müssen für behinderte Menschen barrierefrei gestaltet sein, damit diese die Angebote auswählen und nutzen können. Das Vergaberecht kann und muss hier strukturelle Anreize für mehr Barrierefreiheit setzen.
Der SoVD setzt sich dafür ein, dass die Barrierefreiheit bereits in Leistungsbeschreibungen zu berücksichtigen ist, aber auch als Zuschlagskriterium fungiert. Barrierefreiheit muss auch in Kon-zessionsverfahren Berücksichtigung finden. Der Verstoß gegen verbindliche Vorgaben zur Barri-erefreiheit sollte als Ausschließungsgrund für Vergabeverfahren möglich sein.
Fördermöglichkeiten des Vergaberechts für sozialpolitisch besonders unterstützens-werte Angebote nutzen
Das Vergaberecht kann ein wichtiger Hebel sein, um sozialpolitisch förderwürdige Angebote in der Praxis zu unterstützen. So leisten z. B. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen einen wichtigen Beitrag für die Teilhabe dieser Menschen am Arbeitsleben, müssen sich jedoch zu-gleich am wirtschaftlichen Markt behaupten. Gleiches gilt für Sozialbetriebe, wie z. B. Integrati-onsunternehmen mit ihrer überdurchschnittlichen Beschäftigung von schwerbehinderten Men-schen (zwischen 25 und 50 Prozent). Hier kann und muss das Vergaberecht Anreize setzen, die-se Akteure in vergaberechtlichen Kontexten zu privilegieren.
Ausnahmen vom Ausschreibungsprinzip des Vergaberechts im „sozialrechtlichen Dreieck“ gewährleisten
Das Sozialrecht, einschließlich des Sozialversicherungsrechts, steht in einem Spannungsverhält-nis zum Vergaberecht mit seinem auf Ausschreibung von Leistungen beruhenden Grundsatz. Pflegebedürftige Menschen wollen aus einer Vielzahl von pflegerischen Angeboten das für sie passende auswählen können und nicht auf den Anbieter beschränkt sein, der eine Ausschreibung für sich entscheiden konnte. Menschen mit Behinderungen und kranke Menschen benöti-gen vielfältige Angebote der Unterstützung oder Hilfsmittel, die auf ihre individuellen Bedarfe hin angepasst und ausrichtet sind; durch vergaberechtliche Vorentscheidungen jedoch werden An-gebote reduziert und damit das behinderten Menschen gesetzlich verbriefte Wunsch- und Wahl-recht eingeschränkt. Therapeutische Notwendigkeiten und medizinische Bedarfe müssen Vorrang haben vor vergaberechtlichen Logiken.
Auch kann das Vergaberecht dazu beitragen, gerade die für behinderte Menschen so wichtige Verlässlichkeit und Kontinuität von Unterstützern und Angeboten zu unterlaufen und damit die Qualität in Frage zu stellen. Verwiesen sei hier exemplarisch auf die qualitativ hochwertigen Be-ratungs- und Vermittlungsdienstleistungen der Integrationsfachdienste. Diese Dienste wurden vom Gesetzgeber geschaffen, um behinderte Menschen ins Arbeitsleben zu vermitteln und zu begleiten, in der Praxis wurde deren qualifizierte Vermittlungsstrukturen jedoch durch eine rigide Ausschreibungspraxis der Bundesagentur für Arbeit unterminiert. Der SoVD setzt sich seit lan-gem dafür ein, die Leistungen der Integrationsfachdienste nicht im Wege der öffentlichen Aus-schreibung, sondern durch freihändige Vergabe zu ermöglichen.
Insgesamt muss für Sachverhalte im sog. „sozialleistungsrechtlichen Dreieck“ die öffentliche Auf-tragsvergabe gesetzlich ausgeschlossen werden. Diese Möglichkeit wird europarechtlich eröffnet und sie ist auch sozialpolitisch notwendig. Dabei beschränkt der SoVD seine Forderung nicht al-lein auf das sozialhilferechtliche Dreieck, sondern fordert die Erstreckung auf alle Sachverhalte im sozialrechtlichen Dreieck, mithin also auch auf den Bereich der Sozialversicherung.
Abschließend weist der SoVD auf das Erfordernis hin, dass Vergabeprüfstellen gleichberechtigt mit Männern und Frauen besetzt sind.
DER BUNDESVORSTAND
Abteilung Sozialpolitik
Stellungnahmne: Vergaberecht [169 KB]