Das Zweite Pflegestärkungsgesetz von A bis Z
Neue Pflege?
Der Deutsche Bundestag hat am 13. November 2015 das Zweite Pflegestärkungsgesetz (PSG II) verabschiedet. Die Kernpunkte des Gesetzes sind ein neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit und ein neues Instrument für die Begutachtung. Zum ersten Mal soll eine einheitliche Systematik Pflegebedürftigkeit sowohl anhand von kognitiven als auch anhand von somatischen Kriterien feststellen. Der SoVD hat sich dazu in Stellungnahmen und in einer Sachverständigenanhörung im Bundestag positioniert. Im Folgenden erhalten Sie einen Überblick über die wichtigsten Regelungen.
Begriff
Ab dem 1. Januar 2017 gilt der neue Begriff der Pflegebedürftigkeit. Dieser Begriff knüpft eng an die Ergebnisse der Expertenbeiräte aus den Jahren 2009 und 2013 an,an denen der SoVD mitgewirkt hat. Als pflegebedürftig gelten danach Personen mit Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder Fähigkeitsstörungen, die bei bestimmten Aktivitäten die Unterstützung anderer benötigen und nach der Begutachtung einen Pflegegrad erhalten. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Beeinträchtigungen vor allem im körperlichen, im kognitiven oder im psychischen Bereich liegen. Auch in Zukunft ist nur pflegebedürftig, wer dauerhaft beeinträchtigt ist, das heißt voraussichtlich für mindestens sechs Monate.
Begutachtung
Der Pflegebedarf wird ab dem 1. Januar 2017 mit einem neuen Instrument für die Begutachtung ermittelt (Neues Begutachtungsassessment: NBA). In sechs Modulen werden dazu die individuellen Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit bestimmt und in Punkten zusammengerechnet. Die entscheidenden Module für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit sind:
- Selbstversorgung
- Mobilität
- Verhaltensweise und psychische Problemlagen
- Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
- Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
- Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte
Werte werden auch in den folgenden Modulen ermittelt:
- Außerhäusliche Aktivitäten
- Haushaltsführung
Beide sind für die Ermittlung des Pflegegrades zwar nicht notwendig, können aber bei der individuellen Pflegeplanung, bei der Beratung oder beim Versorgungsmanagement nützen. Wenn die Versicherten oder der Versicherte zustimmt, gelten außerdem die Empfehlungen der Gutachterinnen und Gutachter zu Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln in Zukunft automatisch als ein Leistungsantrag bei der Pflege- oder Krankenkasse.
Überleitungsregelungen sollen vermeiden, dass zu viele Neubegutachtungen die Begutachtungsinstitutionen überfordern. Zum 1. Januar 2017 werden daher Pflegebedürftige ohne erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz im „einfachen Stufensprung“ je eine Stufe hochgestuft: Pflegestufe 1 wird zum Beispiel zu Pflegegrad 2. Pflegebedürftige wie Demenzkranke, die zusätzlich in ihrer Alltagskompetenz erheblich eingeschränkt sind, werden im „doppelten Stufensprung“ je zwei Stufen hochgestuft:
Pflegestufe 2 mit eingeschränkter Alltagskompetenz wird zum Beispiel zu Pflegegrad 4.
Beitragssatz
Zum 1. Januar 2017 steigt der Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung um 0,2 Prozentsatzpunkte: von 2,35 Prozent auf 2,55 Prozent beziehungsweise für Kinderlose auf 2,8 Prozent.
Beratung
Die pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen sollen wirkungsvollere Information und Beratung von den Pflegekassen erhalten: Pflegebedürftige sollen nach dem persönlichen Bedarf und den eigenen Wünschen aus den Angeboten unterschiedlicher Träger einfacher die besten Angebote auswählen und zusammenstellen können. Die Pflegekasse soll die Versicherten in Zukunft gleich nach dem Erhalt eines Antrags auf Pflegeleistungen darüber informieren, dass sie Anspruch auf eine unentgeltliche Pflegeberatung haben und wo sie den am nächsten gelegenen Pflegestützpunkt finden. Außerdem soll die Pflegekasse eine Pflegeberaterin oder einen Pflegeberater benennen und den Versicherten die Vergleichsliste über die Leistungen und Preise der zugelassenen Pflegeeinrichtungen zur Verfügung stellen. Wenn die Versicherten dies wünschen, sollen auch Angehörige eine Pflegeberatung erhalten.
Bestandsschutz
Um eine Schlechterstellung von Leistungsbeziehenden im neuen System zu vermeiden, soll ihre Überleitung grundsätzlich in einen Pflegegrad mit gleichen oder höheren Leistungen erfolgen. Gelingt dies nicht, so gilt ein Besitzstandsschutz für die Leistungen, die vor der Einführung des neuen Systems regelmäßig bezogen wurden.
Einrichtungseinheitlicher Eigenanteil
Pflegebedürftige in stationären Pflegeeinrichtungen tragen einen Teil der Kosten für ihre Pflege selbst. Dieser Kostenanteil steigt mit zunehmender Pflegebedürftigkeit. Darum wehren sich einige pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen gegen die Höherstufung. Ab 2017 werden alle Pflegebedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5 in stationären Pflegeeinrichtungen den gleichen Betrag als Anteil an den Pflegekosten tragen.
Dies soll den Automatismus durchbrechen, dass mit steigendem Pflegegrad auch der Eigenanteil steigt.
Entlastungsbetrag
Der Anspruch auf eine zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistung wird zur besseren Verständlichkeit in Zukunft „Entlastungsbetrag“ heißen. Ab 2017 sollen alle Anspruchsberechtigten einen einheitlichen Entlastungsbetrag von 125 € erhalten. Unverändert können sie diesen Betrag für die Kostenerstattung von Leistungen der Kurzzeitpflege, der teilstationären Tages- und Nachtpflege, zugelassener Pflegedienste oder der niedrigschwelligen Betreuungs- oder Entlastungsangebote (künftig „Angebote zur Unterstützung im Alltag“), die das Landesrecht anerkennt, einsetzen. Allerdings sollen die Anspruchsberechtigten den Entlastungsbetrag in Zukunft nicht mehr für Leistungen der körperbezogenen Pflege („Grundpflege“) durch Pflegedienste einsetzen können. Dies soll den Anreiz verstärken, den Entlastungsbetrag vor allem zur Entlastung von Angehörigen und anderen Pflegepersonen einzusetzen.
Leistungshöhen im Auszug
Die monatlichen Leistungen sind ab dem 1. Januar 2017 in folgenden Höhen vorgesehen (siehe Tabelle im PDF-Dokument)
Pflegegrade
Zum 1. Januar 2017 ersetzen fünf Pflegegrade die bisherigen drei Pflegestufen – oder mit Pflegestufe 0 die bisherigen vier Pflegestufen. Die Einordnung in einen Pflegegrad bestimmen künftig nicht mehr die Pflegeminuten, sondern die mit dem neuen Begutachtungsinstrument ermittelten Punkte.
Personalbemessung
Die Pflegekassen und die Leistungserbringer wurden beauftragt, zum 30. Juni 2020 ein Verfahren auf wissenschaftlicher Grundlage zu schaffen, das den Personalbedarf in Pflegeeinrichtungen einheitlich bemisst. Die maßgeblichen Organisationen der Interessenvertretung pflegebedürftiger und behinderter Menschen – darunter der SoVD – sind dabei zu beteiligen.
Qualitätsausschuss
Die Weiterentwicklung der Schiedsstelle Qualitätssicherung zu einem Qualitätsausschuss soll ein effizientes Verhandlungs- und Entscheidungsgremium schaffen. Im Qualitätsausschuss entscheiden die Leistungserbringer und die Pflegekassen gemeinsam über verschiedene Aspekte der Pflegequalität, wie über die Weiterentwicklung der sogenannten Pflegenoten. Die maßgeblichen Organisationen der Interessenvertretung pflegebedürftiger und behinderter Menschen – darunter der SoVD – wirken beratend mit.
Der Qualitätsausschuss trifft Entscheidungen einvernehmlich. Gelingt dies nicht, so kann er in einen „erweiterten Qualitätsausschuss“ umgewandelt werden. Zum Ausschuss treten dann ein unparteiischer Vorsitzender und zwei unparteiische Mitglieder hinzu. Beschlüsse fasst der erweiterte Qualitätsausschuss mit Mehrheitsvotum. Die unparteiischen Vorsitzenden ernennt das Bundesministerium für Gesundheit (BMG).
Rente
Ab dem 1. Januar 2017 zahlt die Pflegeversicherung Beiträge zur Rentenversicherung für nicht erwerbsmäßig pflegende Angehörige, wenn diese eine oder mehrere Personen mit Pflegegrad 2 oder höher wenigstens 10 Stunden in der Woche pflegen und sich diese Stunden auf mindestens zwei Tage in der Woche verteilen. Die Höhe der Beiträge unterscheidet sich nach dem Pflegegrad der gepflegten Person(en) und der bezogenen Leistungsart (Pflegesachleistung, Pflegegeld, Kombinationsleistung).
Überleitung
Bis zum 31. Dezember 2016 gelten die bisherigen Regelungen zur Definition von Pflegebedürftigkeit, zur Begutachtung und Einstufung in Pflegestufen sowie zu den Leistungshöhen. Ab dem 1. Januar 2017 werden die Neuregelungen gelten. Für Personen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Leistungsrechts zum 1. Januar 2017 bereits Leistungen der Pflegeversicherung bezogen haben, gelten Überleitungsregelungen ins neue System. Um eine Schlechterstellung zu vermeiden, soll die Überleitung grundsätzlich in einen Pflegegrad mit gleichen oder höheren Leistungen erfolgen. Für Fälle, in denen dies nicht gelingt, wird ein Besitzstandsschutz gelten.
Die Positionen des SoVD
- Wir begrüßen, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die seit zehn Jahren vorbereitete und geforderte Einführung eines neuen Begriffs von Pflegebedürftigkeit und eines neuen Instruments zur Pflegebegutachtung endlich erfolgen soll.
- Um Härten zu vermeiden, halten wir es für sehr wichtig, dass der Bestandsschutz unbefristet gilt.
- Kritisch beurteilen wir, dass die Leistungen in den niedrigen Pflegegraden vor allem für die stationäre Pflege zum Teil erheblich gesenkt werden. Zusammen mit den zukünftig einrichtungseinheitlichen Eigenanteilen, die die niedrigen Pflegegrade ebenfalls stärker belasten, kann dies eine erhebliche Verschlechterung für den Personenkreis bewirken.
- Weil die Überschneidungen zwischen den Leistungen der Eingliederungshilfe und den Leistungen der Pflegeversicherung zukünftig größer werden, vermissen wir im Zweiten Pflegestärkungsgesetz dringend eine Neuregelung der Schnittstelle Pflege/Eingliederungshilfe.
- Kritisch beurteilen wir auch, dass das Risiko pflegebedingter Armut weiter unberücksichtigt bleibt. Wir fordern eine regelmäßige Anpassung der Pflegeversicherungsleistungen an die Preis- und Lohnentwicklung („Dynamisierungsautomatik“) und mittelfristig die Weiterentwicklung zur Pflege-Vollversicherung.
- Für bedauerlich halten wir, dass das Zweite Pflegestärkungsgesetz keine grundsätzlichen Maßnahmen zur Stärkung der solidarischen Umlagefinanzierung enthält. Wir fordern die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zu einer Bürgerversicherung.