Teilhabebericht macht Lebenslagen sichtbar
In Deutschland leben rund 12,8 Millionen Menschen mit Behinderungen beziehungsweise Beeinträchtigungen. Der aktuelle Teilhabebericht der Bundesregierung beleuchtet die Lebenslagen von ihnen in acht Bereichen. Dabei macht er deutlich: Menschen mit Beeinträchtigungen sind in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe oft eingeschränkt. Je schwerer die Beeinträchtigungen, desto geringer die Teilhabechancen.
Der Teilhabebericht diskutiert den Begriff „Behinderung“ kritisch. Stattdessen spricht er von „Menschen mit Beeinträchtigungen.“
Die Bundesregierung stellt seit 2014 nicht mehr behindertenpolitische Maßnahmen, sondern die Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Beeinträchtigungen in den Mittelpunkt des Berichts: Welche Teilhabechancen haben beeinträchtigte Menschen? Wo werden sie ausgeschlossen und benachteiligt? Mit welchen Hürden kämpfen sie? Der aktuelle Bericht zeigt dabei positive wie negative Entwicklungen auf. Zugleich offenbart er Wissenslücken – in vielen Bereichen fehlt es noch immer an Daten.
Der Bericht betrachtet aber nicht nur die Lebenslagen von Menschen mit anerkannter Behinderung oder Schwerbehinderung. Er bezieht auch Menschen mit chronischen Erkrankungen oder dauerhaften gesundheitlichen Problemen ein. Sie alle bezeichnet er als „Menschen mit Beeinträchtigung“. Damit soll sich der Fokus vom sozialen „Behindert-Werden durch Barrieren der Umwelt“ auf die Einschränkungen verlagern, die in Wechselwirkung mit Umweltbedingungen entstehen und gesellschaftliche Teilhabechancen beeinflussen. Der neue Teilhabebericht betrachtet dazu aktuelle Statistiken aus acht Lebensbereichen: Familienleben, Bildung, Arbeit, Alltag, Gesundheit, Freizeit, Schutz vor Gewalt und Politik.
Familie und soziales Netz
Menschen mit Beeinträchtigungen leben besonders häufig allein. Sie sind fünfmal seltener in festen Paarbeziehungen mit Kindern (7 Prozent) als Menschen ohne Beeinträchtigungen (35 Prozent). Kinder mit Beeinträchtigungen leben häufiger bei einem alleinerziehenden Elternteil. Dennoch scheinen Menschen mit Beeinträchtigungen ähnlich zufrieden mit ihrem Familienleben wie die übrige Bevölkerung. Außerhalb der Familie erfahren sie dagegen weniger soziale Unterstützung. Sie erhalten zum Beispiel seltener Besuch. Hieran hat sich auch in den letzten Jahren wenig verbessert.
Bildung und Ausbildung
In den Kitas ist die Inklusion weit fortgeschritten: Der Anteil inklusiv betreuter Kinder liegt inzwischen bei 91 Prozent. In den Schulen bleibt Inklusion indessen weiter schwierig. Zwar besuchte 2014 ein deutlich höherer Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule (34 Prozent) als noch fünf Jahre vorher. Die Zahl der Kinder an Sonderschulen ging aber kaum zurück: Die Exklusionsquote unter Schülerinnen und Schülern in Deutschland verblieb insgesamt bei 4,6 Prozent. Der Teilhabebericht kritisiert daher zu Recht, dass die fortschreitende Inklusion im Bildungssystem bislang keinen nennenswerten Abbau von Förderschulen bewirkt hat. Noch immer lernen Kinder mit Beeinträchtigungen mehrheitlich an separaten Förderschulen. 71 Prozent von ihnen bleiben ohne anerkannten Schulabschluss.
Menschen mit Beeinträchtigungen erlangen zudem niedrigere Bildungsabschlüsse als die übrige Bevölkerung: Sie machen seltener das Abitur oder einen Realschulabschluss und häufiger einen Hauptschulabschluss. Auch haben fast doppelt so viele Menschen mit Beeinträchtigungen keinen beruflichen Abschluss (21 Prozent) wie Menschen ohne Beeinträchtigungen. Dies betrifft besonders Frauen. Obendrein nahmen 2013 nur 3 Prozent der Schwerbehinderten an Weiterbildungen teil. Unter den Menschen ohne Beeinträchtigungen war der Anteil mit 13 Prozent erheblich höher.
In der „Bildungsrepublik Deutschland“ begegnen Menschen mit Beeinträchtigungen also weiterhin großen Teilhabedefiziten. Dies kritisiert der SoVD nachdrücklich. Denn Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Teilhabe an Gesellschaft und Arbeit.
Erwerbsarbeit und Einkommen
Menschen mit Beeinträchtigungen sind seltener Teil des Arbeitsmarkts. Ihre Erwerbsquote liegt bei nur 49 Prozent – gegenüber 80 Prozent unter Menschen ohne Beeinträchtigungen. Die fast 1,2 Millionen schwerbehinderten Arbeitnehmenden arbeiten zudem besonders häufig in Teilzeit. Lediglich der Anteil atypischer Beschäftigungen ist unter Menschen mit Beeinträchtigungen etwas geringer als im Bevölkerungsdurchschnitt.
Ein sehr großes Problem stellt die hohe Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen dar. Sie lag 2015 mit 13,4 Prozent noch immer weit über der allgemeinen Quote von 8,6 Prozent. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter hält zudem deutlich länger an als die nicht behinderter Menschen, nämlich fast 52 Wochen gegenüber 37 Wochen.
Die Nettoeinkommen von Menschen mit Beeinträchtigungen sind über alle Haushaltstypen hinweg niedriger: Sie müssen im Durchschnitt mit nur 79 Prozent des Einkommens von Menschen ohne Beeinträchtigungen auskommen. Auch ihre Armutsrisikoquote liegt mit 20 Prozent deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt von 13 Prozent. Unter chronisch kranken Menschen liegt die Armutsrisikoquote sogar bei 26 Prozent. Diese Zahlen sind in den letzten Jahren ganz erheblich angestiegen.
Wohnen und Alltag
Wissensdefizite zeigen sich deutlich im Bereich Wohnen und Alltag. So betont der Teilhabebericht zwar, dass bis 2030 zusätzlich 2,9 Millionen barrierearme und -freie Wohnungen benötigt werden. Jedoch kann er keine bundesweiten Zahlen zur Barrierefreiheit der Haushalte von Menschen mit Beeinträchtigungen liefern. Angesichts der demografischen Entwicklung und vieler pflegebedürftiger Menschen besteht hier dringender Handlungsbedarf. Von den 2,6 Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2013 lebte die Mehrheit (1,86 Millionen) in Privathaushalten – dieser Anteil ist in den letzten Jahren deutlich stärker angestiegen als der Anteil Pflegebedürftiger in stationären Einrichtungen. Auch im Bereich barrierefreie Mobilität und Infrastruktur des öffentlichen Raumes macht der Bericht große Wissenslücken sichtbar.
Gesundheit
Menschen mit Beeinträchtigungen bewerten ihre Gesundheit und ihr psychisches Wohlbefinden deutlich schlechter als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Daher ist es bemerkenswert, dass sich 30 Prozent der Beschäftigten mit Beeinträchtigungen innerhalb eines Jahres keinen einzigen Tag krankgemeldet haben – gegenüber 23 Prozent der Beschäftigten ohne Beeinträchtigungen. Nach wie vor fehlen verlässliche Zahlen zur Barrierefreiheit im Gesundheitswesen. Sogar nach Selbstauskunft der Ärzteschaft sind gerade einmal 11 Prozent der Praxen zumindest teilweise barrierefrei.
Freizeit
Menschen mit Beeinträchtigungen gehen seltener Freizeitaktivitäten nach, machen seltener Ausflüge und besuchen seltener kulturelle Veranstaltungen. Zudem sind sie weniger sportlich aktiv: Fast die Hälfte von ihnen gibt sogar an, nie Sport zu treiben. Allgemein sind nur 28 Prozent der Bevölkerung sportlich inaktiv. Es verwundert daher nicht, dass Menschen mit Beeinträchtigungen mit ihrer Freizeit weniger zufrieden sind als nicht behinderte Menschen.
Sicherheit und Schutz der Person
Frauen und Männer sowie Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen sind häufiger Opfer von Gewalt – körperlicher, sexualisierter und psychischer. Studien zufolge haben 43 Prozent der Frauen mit Beeinträchtigungen, die in Privathaushalten leben, und 56 Prozent der Frauen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, sexualisierte Gewalt erlebt. Diese Prozentzahlen sind deutlich höher als in der weiblichen Gesamtbevölkerung mit 19 Prozent.
Laut dem Teilhabebericht standen 2014 mehr als 1,3 Millionen Personen unter rechtlicher Betreuung, es wurden 234 000 Genehmigungsverfahren über freiheitsentziehende Unterbringungen geführt und 60 000 Genehmigungen für freiheitsentziehende Maßnahmen erteilt. Der Bericht kritisiert, dass die Voraussetzungen zur Genehmigung in stationären Pflegeeinrichtungen nicht immer vorliegen.
Politische Partizipation
Menschen mit Beeinträchtigungen interessieren sich etwas häufiger „stark“ oder „sehr stark“ für Politik als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Sie beteiligten sich in gleichem Umfang an Bundestagswahlen. In Vereinen und Verbänden engagieren sich Menschen mit Beeinträchtigungen jedoch deutlich seltener (25 Prozent gegenüber allgemein 30 Prozent).
Bewertung des SoVD
Der Teilhabebericht liefert wichtige Erkenntnisse zur Lebenswirklichkeit beeinträchtigter Menschen in Deutschland. Er zeigt, dass ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, wie von der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert, in vielen Feldern noch nicht erreicht ist. Menschen mit Beeinträchtigungen sind oft in ihrer Teilhabe eingeschränkt. Es ist daher bedauerlich, dass die Bundesregierung die Ergebnisse des Teilhabeberichts anders als die anderer Berichte kaum öffentlich kommuniziert hat.
Die Ergebnisse des Berichts mögen bedrückend sein, dennoch sind sie wichtig. Denn auf ihnen können und müssen politische Strategien jetzt aufbauen. Es braucht Maßnahmen der Bewusstseinsbildung, konkrete Programme und Initiativen, unter anderem in den Bereichen Beschäftigung und Barrierefreiheit, aber auch klare gesetzliche Vorgaben, um die Teilhabechancen von Menschen mit Beeinträchtigungen spürbar zu verbessern.
Zugleich müssen Datenlücken geschlossen werden. Eine bereits auf den Weg gebrachte repräsentative Studie zur Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen kann hierzu entscheidend beitragen: Bis 2021 sollen 16 000 Menschen mit Beeinträchtigungen in Privathaushalten und 5 000 Menschen mit Beeinträchtigungen in Einrichtungen zu ihren Lebenslagen befragt werden. Es wäre wünschenswert, wenn erste Ergebnisse dieser Repräsentativbefragung bereits im kommenden Teilhabebericht berücksichtigt würden.
Bei Einzelfragen hilft Ihnen Ihre SoVD-Beratungsstelle gern weiter. Hier erfahren Sie die Anschriften der SoVD-Landes- und Kreisverbände.