Der neue Teilhabebericht der Bundesregierung
Eine indikatorengestützte Analyse der Lebenslagen behinderter Menschen
Im August 2013 veröffentlichte die Bundesregierung ihren neuen Teilhabebericht "über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen". Der neue Bericht¹ zielt darauf ab, die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland endlich sichtbarer zu machen. Zugleich offenbart er große Wissenslücken, denn zu vielen Lebenslagen behinderter Menschen fehlen aussagekräftige Daten.
Alle vier Jahre muss die Bundesregierung einen sog. "Bundesbehindertenbericht" vorlegen. Bislang waren diese vor allem Rechenschaftsberichte der jeweiligen Bundesregierung. Statt auf die Situation behinderter Menschen schaute die Regierung vielmehr auf ihre eigenen behindertenpolitischen Aktivitäten und würdigte diese mit viel Eigenlob. Dies hatte der SoVD wiederholt kritisiert und eine ehrliche Analyse der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen in Deutschland gefordert. Hier setzt der neue Teilhabebericht an.
Was ist das Neue am Bericht?
Der neue Teilhabebericht wagt einen Neuanfang. Er beschreibt für zahlreiche Lebensbereiche, z.B. Schule, Arbeit, Freizeit, Familie, Alltag, Gesundheit, wie die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen aussieht. Welche Teilhabechancen haben sie, wo werden sie ausgeschlossen und benachteiligt, mit welchen Hürden kämpfen sie?
Anders als frühere Berichte wurde der neue Teilhabebericht nicht allein von der Bundesregierung erstellt. Stattdessen wurde ein Forschungs- und Beratungsunternehmen beauftragt, verfügbare Daten auszuwerten und den Bericht zu erarbeiten. Begleitet wurde die Arbeit von einem wissenschaftlichen Beirat, dem auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Behinderungen angehörten. Dieser Beirat verfasste zu den jeweiligen Abschnitten eigene kurze Stellungnahmen.
Wozu die neue Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung und Behinderung?
Der Teilhabebericht knüpft an den Behinderungsbegriff der Weltgesundheitsorganisation an und unterscheidet zwischen Beeinträchtigung und Behinderung (ICF). Von Beeinträchtigung spricht man, wenn eine körperliche Schädigung vorliegt, die zu Funktionseinschränkungen (z.B. bei der Fortbewegung) führt. Eine Behinderung entsteht (erst) dann, wenn diese Beeinträchtigung durch weitere Faktoren ? persönliche Umstände oder Umweltbedingungen ? zu Aktivitäts- oder Teilhabeeinschränkungen führen. Getreu dem Motto: Behindert ist man nicht, behindert wird man.
Der neue Teilhabebericht schaut daher nicht nur auf Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung, sondern geht weiter. Er wertet auch Fragen zu chronischen Krankheiten und Teilhabeeinschränkungen aus. Der Bericht spricht von 16,8 Mio. Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland. Die breite Perspektive ist grundsätzlich richtig, denn Hilfe und Unterstützung benötigen auch Menschen, die keinen amtlichen Schwerbehindertenausweis haben oder möchten. Doch der breite Ansatz darf nicht dazu führen, die besonderen Bedarfe schwerbehinderter Menschen zu relativieren bzw. sie aus dem politischen Focus zu rücken. Stattdessen müssen politische Konzepte hier differenziert ansetzen.
Welche Ergebnisse liefert der Bericht?
Der neue Teilhabebericht beschreibt die Lebenslagen behinderter Menschen in verschiedenen Lebensbereichen ("Teilhabefelder"). Zusätzlich wird die Situation von älteren Menschen sowie von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in eigenen Abschnitten gesondert untersucht. Zu folgenden Ergebnissen kommt der Teilhabebericht in ausgewählten Lebensbereichen:
Familie und soziales Netz
Erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen leben häufiger allein (31 %) als nicht beeinträchtigte Menschen (21 %), wobei der Anteil Alleinlebender steigt, wenn der Grad der Behinderung höher ist. Menschen mit Beeinträchtigungen sind seltener verheiratet bzw. in fester Partnerschaft und werden seltener Eltern. Kinder mit Beeinträchtigungen leben wesentlich häufiger bei einem allein erziehenden Elternteil als Kinder ohne Beeinträchtigungen. Erwachsene und Kinder mit Beeinträchtigungen erfahren überdies seltener Hilfe und Unterstützung durch Familie, Freunde oder Nachbarn und verfügen daher über ein weniger stabiles, unterstützendes soziales Netzwerk.
Bildung und Ausbildung
Während 87 % der unter 8jährigen behinderten Kinder in regulären Tageseinrichtungen betreut werden, besuchen nur 22 % eine Regelschule. 75 % der Schüler aus Förderschulen verlassen diese ohne anerkannten Schulabschluss. Menschen mit Beeinträchtigungen verfügen über ein geringeres Bildungsniveau. Während jeder zweite 20-64jährige Erwachsene mit Beeinträchtigung maximal einen Hauptschulabschluss hat, trifft dies bei Erwachsenen ohne Beeinträchtigungen nur auf jeden dritten zu. Menschen mit Beeinträchtigungen (30-64 Jahre) haben überdies mit einem Anteil von 19 % doppelt so häufig keinen beruflichen Abschluss wie Gleichaltrige ohne Beeinträchtigung.
Erwerbsarbeit und Einkommen
Menschen mit Beeinträchtigungen sind seltener auf dem 1. Arbeitsmarkt tätig; die Erwerbsquote von Frauen und Männern mit Beeinträchtigungen liegt bei 58 % (Männer ohne Beeinträchtigung 83 %, Frauen ohne Beeinträchtigung 75 %). Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten im Schnitt häufiger in Teilzeit, erhalten geringere Stundenlöhne und sind häufiger unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt als Erwerbstätige ohne Beeinträchtigungen. Zudem lag die Arbeitslosenquote bei schwerbehinderten Menschen 2011 mit 14,8 % erheblich über der allgemeinen Arbeitslosenquote von 9,1 %. Bei Menschen mit Beeinträchtigungen dauert die Arbeitslosigkeit mit fast 26 Monaten erheblich länger als bei nicht beeinträchtigten Menschen (15 Monate).
Haushalte, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen leben, verfügen über durchschnittlich geringere Haushaltseinkommen, niedrigere Renten und geringere Vermögensrücklagen. Sie sind häufiger auf Grundsicherungsleistungen angewiesen. In der Gruppe der 30-64jährigen ist das Armutsrisiko für Menschen mit Beeinträchtigungen doppelt so hoch wie für nicht beeinträchtigte Menschen.
Gesundheit
Menschen mit Beeinträchtigungen bewerten ihren körperlichen Gesundheitszustand deutlich schlechter als Menschen ohne Beeinträchtigungen; sie müssen häufiger den Arzt besuchen, jedoch sind Arztpraxen vielfach noch immer nicht barrierefrei bzw. auf die besonderen Belange behinderter Menschen eingerichtet.
Freizeit
Menschen mit Beeinträchtigungen verbringen ihre Freizeit häufiger als nicht beeinträchtigte Menschen allein, wobei dieser Anteil mit zunehmendem Grad der Behinderung noch ansteigt. Mobilitätseingeschränkte Menschen machen seltener Urlaubsreisen und besuchen seltener kulturelle Veranstaltungen. Sie sind unzufrieden mit den für sie verfügbaren Freizeitangeboten.
Schutz vor Gewalt
Frauen und Männer mit Beeinträchtigungen sind häufiger Opfer von Gewalt. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen; 17 % von ihnen wurden in den vergangenen 12 Monaten Opfer von Gewalttaten (ohne Beeinträchtigungen 9 %). Frauen mit Beeinträchtigungen berichten etwa 2-3mal so häufig von sexuellen Übergriffen, wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Überdies begegnen erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen auch überdurchschnittlich häufig psychischer Gewalt.
Bewertung des Berichts des SoVD und Ausblick
Der neue Teilhabebericht ist ein wichtiger Neuanfang. Er liefert wichtige Erkenntnisse zur Lebenswirklichkeit behinderter Menschen in Deutschland und zeigt, dass sie noch immer erhebliche Teilhabeeinschränkungen erfahren. Die dargestellten Ergebnisse mögen bedrückend sein, dennoch sind sie wichtig. Denn auf diese Grundlage können und müssen nun politische Strategien aufbauen.
Jetzt müssen Programme und Maßnahmen auf den Weg gebracht werden, um die Situation behinderter Menschen in Deutschland spürbar zu verbessern. Hier darf keine Zeit mehr verloren gehen. Es ist bedauerlich, dass der Teilhabebericht erst im August 2013 vom Kabinett verabschiedet wurde. So konnte ihn der 17. Deutsche Bundestag weder diskutieren noch Initiativen ergreifen. Die neue Bundesregierung und der 18. Deutsche Bundestag sind aufgerufen, jetzt zügig aktiv zu werden und auf der Grundlage des Teilhabeberichts politische Initiativen auf den Weg zu bringen.
Zugleich müssen Datenlücken geschlossen werden. Hier befürwortet der SoVD eine eigenständige Datenerhebung zu den Lebenslagen behinderter Menschen im Sinne eines "disability surveys".
Parallel dazu gilt es den Teilhabebericht weiterzuentwickeln; dies betrifft in besonderer Weise die Indikatorenentwicklung. In den Fortentwicklungsprozess sind die Verbände behinderter Menschen unbedingt einzubeziehen ? getreu dem Motto "Nichts über uns ohne uns".
Bei Einzelfragen wenden Sie sich bitte an Ihre SoVD-Beratungsstelle. Die Anschriften der SoVD-Landes- und Kreisverbände erfahren Sie auch auf unserer Internetseite unter www.sovd.de.
¹ Der Teilhabebericht umfasst mehr als 470 Seiten und ist im Internet abrufbar unter: www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Meldungen/2013-07-31-teilhabebericht.pdf;jsessionid=1AE6FC1B32A5611AACBCD4817D586A16?__blob=publicationFile